Die direkt auf dem Trommelfell platzierte sogenannte Hörkontaktlinse könnte ab 2022 den hiesigen Markt der Hörgeräte revolutionieren und künftig womöglich auch das Imageproblem dieser technisch-medizinischen Hilfsmittel lösen.
Es ist höchste Zeit für eine veritable Innovation auf dem Hörgeräte-Markt, wie sie das 2016 gegründete Start-up Vibrosonic im Laufe des Jahres 2022 hierzulande zu lancieren beabsichtigt. Wobei es sich bei Vibrosonic um eine Ausgründung der Fraunhofer-Projektgruppe für Automatisierung in der Medizin und Biotechnologie PAMB des Fraunhofer Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung IPA und der Universitäts-HNO-Klinik Tübingen handelt. Gemeinsam mit 30 Mitarbeitern haben die beiden ehemaligen PAMB-Wissenschaftler Dr. Dominik Kaltenbacher und Dr. Jonathan Schächtele 2021 eine inzwischen mit dem CE-Qualitätssiegel zertifizierte Hörhilfe namens „Vibrosonic alpha" entwickelt. Die haben sie selbst in Anspielung auf das bekannte Augenhilfsmittel als „Hörkontaktlinse" deklariert haben. Weil bei ihr der Lautsprecher nicht wie bei vielen bislang gängigen Hörgeräte-Modellen im Gehörgang, sondern direkt auf dem Trommelfell sitzt. „Wir beschäftigen uns schon sehr lange mit Hörgeräten", so Dr. Dominik Kaltenbacher, „und an der Uniklinik entstand dann die Idee, diese neue Hörgerätegeneration zu schaffen."
Laut den in Mannheim ansässigen Vibrosonic-Verantwortlichen kann ihre Erfindung eine deutliche Verbesserung des Klangerlebnisses vor allem für Menschen mit leichter bis mittelgradiger Hörschädigung bewirken, die 85 Prozent aller Schwerhörigen ausmachen – wie bereits erste Studien mit einer noch begrenzten Probandenzahl bewiesen hätten. Dank der neuen Technik könne das natürliche Hören weitestgehend nachempfunden werden. „Da unsere Hörkontaktlinse direkt auf dem Trommelfell getragen wird – wie eine Kontaktlinse auf dem Auge – können sehr tiefe und besonders hohe Töne sehr gut verstärkt und störende Geräusche durch Rückkoppelungen prinzipbedingt weitgehend vermieden werden", so Dr. Dominik Kaltenbacher. „Die tiefen Töne sind beispielsweise bei Genuss von Musik entscheidend, weil der Klang dadurch satter wird. Hohe Töne gut zu hören ist für das Sprachverstehen wichtig, denn die codierten Obertöne machen den Charakter einer Stimme aus. In der Hörkontaktlinse verwenden wir den weltweit ersten Hörgerätelautsprecher, der konsequent mit den Methoden der Mikrosystemtechnik entwickelt und realisiert wurde, den sogenannten Vibrosonic-Aktor. Einzelne Strukturen des Vibrosonic-Aktors sind tausendmal kleiner als die Dicke eines menschlichen Haars. Trotz kleinster Abmessungen verfügt er über überragende audiologische Eigenschaften."
Störeinflüsse können mit der Linse vermieden werden
Zudem hat die Hörkontaktlinse im Vergleich zu den bisher gebräuchlichen Modellen den Vorteil, dass sie einen breiteren Frequenzbereich abdecken kann. Ein Mensch ohne Beeinträchtigung seiner Hörkraft kann Töne im Frequenzbereich von 20 bis 20.000 Hertz wahrnehmen. Bei einsetzender Schwerhörigkeit gibt es zunächst Verluste bei höheren Tönen, und klassische Hörverstärker können im Bereich zwischen 200 und 8.000 helfen. „Wir kommen mit unserem Ansatz aber deutlich weiter", so Dr. Dominik Kaltenbacher, „decken einen Bereich zwischen 80 und 12.000 Hertz ab." Was auch damit zusammenhängen dürfte, dass bei der Vibrosonic-Lösung akustische, die Klangqualität beeinträchtigende Verzerrungen, wie sie bei gängigen Modellen mit Lautsprecher im Gehörgang vorkommen können, oder Störeinflüsse durch äußere Faktoren wie den Wind, das Grundrauschen auf Partys oder laute Gruppengespräche bei Geräten mit hinter dem Ohr sitzendem Mikrofon vermieden werden können. Ähnlich wie beim natürlichen Hören, bei dem der Schall auf das Trommelfell trifft und es dadurch in Schwingung versetzt, kann auch die auf dem Trommelfell sitzende Hörkontaktlinse den Schall durch unmittelbare Stimulation übertragen. Statt eines traditionellen Lautsprechers kommt bei der Hörkontaktlinse ein sogenannter Mikro-Aktuator mit wiederaufladbarem Akku zum Einsatz. Sein Herzstück ist ein als „Piezoaktuator" bezeichneter Schallwandler, der die eintreffenden Schallwellen direkt in einen mechanischen Reiz umsetzt und damit das Trommelfell zum Schwingen bringt. Diese Schwingungen können von den Gehörknöchelchen des Innenohrs zur Einleitung der Tonwahrnehmung aufgenommen werden.
Das Vibrosonic-Gerät besteht aus drei Komponenten. Neben der Kontaktlinse gibt es ein Gehörgangs-Modul, das unsichtbar im Gehörgang platziert wird, und ein noch sichtbares Hinter-dem-Ohr-Modul. Letzteres soll künftig in einer nächsten Modell-Stufe durch Miniaturisierung ebenfalls komplett in das Ohr eingebracht werden, sodass der Träger dann vom gesellschaftlichen Umfeld nicht mehr als Schwerhöriger erkannt werden kann. Hörkontaktlinse und Gehörgangs-Modul müssen von einem HNO-Arzt eingesetzt werden, die Hörkontaktlinse muss zuvor für jeden Schwerhörigen aufgrund der Unterschiedlichkeit der Trommelfellform individuell hergestellt werden. Auch für die regelmäßige Kontrolle des Geräts ist der Arzt verantwortlich. Während ein Hörakustiker die Anpassung der Gerätefunktion an den jeweiligen Hörverlust übernehmen soll. Damit die im Ohr positionierten Komponenten nicht nach Entleerung der Akkus zum Aufladen wieder herausgenommen werden müssen, erfolgt der Ladevorgang kabellos. Wofür der Träger einfach nur etwa eine Stunde lang einen speziellen Kopfhörer aufsetzen muss. Das System ist für Betroffene ab 18 Jahren geeignet.
Was die Preisangaben für den „Vibrosonic alpha" betrifft, für dessen Vertrieb der Spezialist und Vibrosonic-Mitinvestor Auric Hörsysteme verantwortlich zeichnen soll, hält sich das Herstellerunternehmen bislang noch bedeckt und hat lediglich verlautbaren lassen, dass er im oberen Preissegment und damit bei den Premium-Hörgeräten angesiedelt sein wird. Experten haben daher den Preis für ein Gerät (pro Ohr versteht sich) schon mal auf die Spanne zwischen 1.600 und circa 2.100 Euro taxiert. Wobei sie auch schon die Krankenkassen-Zuschüsse mit einberechnet hatten, weil der Hersteller von laufenden Gesprächen mit den Kassen über die Möglichkeiten einer Bezuschussung berichtet hatte. Auf jeden Fall dürften Interessenten mit einem erklecklichen Eigenanteilbetrag rechnen müssen. Interessant, aber von den Vibrosonic-Machern unerwähnt gelassen: In den USA gibt es bereits seit 2015 mit „Earlens" ein Gerät, das auf ähnliche Weise wie das neue deutsche Produkt funktioniert, aber „Vibrosonic alpha" kann als deutliche technische Weiterentwicklung eingestuft werden.
In unserer modernen Welt, in der so gut wie alles statistisch exakt erfasst ist, ist es ziemlich verwunderlich, dass es ausgerechnet für ein Leiden, von dem global mehr als 450 Millionen Menschen und hierzulande mindestens 17 Millionen Bundesbürger betroffen sein sollen, lediglich unverbindliche Schätzungen gibt. Was vor allem damit zusammenhängt, dass es bezüglich der Schwerhörigkeit, die im medizinischen Fachjargon als „Hypakusis" bezeichnet wird und eine Einschränkung des Hörvermögens vom geringen Hörverlust bis hin zur vollständigen Gehörlosigkeit beinhaltet, die unterschiedlichsten Definitionen gibt und dass es bei Erhebungen zur Ermittlung der Zahl der Betroffenen keinen einheitlichen Fragenkatalog gibt. Im Zuge des demografischen Wandels und der damit verbundenen zunehmenden Geriatrisierung der Bevölkerung in den meisten Industriestaaten wird sich das Problem der verminderten Hörfähigkeit künftig weiter verschärfen. Weil Schwerhörigkeit gemeinhin als typisches Leiden älterer Menschen angesehen wird und vermehrt ab dem 50. Lebensjahr meist in schleichender Form aufzutreten pflegt. Hierzulande soll jeder fünfte Bundesbürger zwischen 65 und 74 Jahren von einer als „Presbyakusis" genannten Altersschwerhörigkeit betroffen sein. Das Portal www.meinhoergeraet.de konnte nach Auswertung mehrerer Studien ermitteln, dass 2021 mehr als 17 Prozent der Deutschen schwerhörig waren. Der Deutsche Schwerhörigenbund ging sogar von 19 Prozent aus.
Mehr als zwei Drittel aller Betroffenen in Deutschland verzichten auf eine Hörhilfe
Angesichts eines hierzulande als vorbildlich anzusehenden Hörgeräteversorgungssystems könnte den Betroffenen eigentlich bestens geholfen werden. Doch überraschenderweise entspricht die Nachfrage nach den technisch-medizinischen Hilfsmitteln, die über die vergangenen Jahrzehnte immer ausgeklügelter, miniaturisierter und natürlich digitaler geworden sind, bei Weitem nicht dem eigentlich zu erwartenden Bedarf. Weil hierzulande schätzungsweise nur circa 3,8 Millionen Personen tatsächlich Hörgeräte tragen. Was nichts anderes bedeutet, als dass mehr als zwei Drittel der Betroffenen auf das Hilfsmittel verzichten. Obwohl ihnen damit eine erhebliche Erhöhung der Lebensqualität und eine deutliche Verbesserung der zwischenmenschlichen Kommunikation ermöglicht werden könnte. Die meisten chronisch Schwerhörigen weisen eine Innenohrstörung auf, können daher leise, anfangs vor allem höhere Töne nicht mehr hören, was vor allem die verstehende Teilnahme an Gesprächen erheblich beeinträchtigen kann. Und beim Fernsehen meist das Hochschrauben des Lautstärkereglers nötig macht.
Dass bundesweit 2020 laut Angaben von www.statista.com gerade mal 1,3 Millionen Hörgeräte verkauft werden konnten, lässt sich vor allem auf das noch immer vorherrschende Image-Problem dieser Hilfsmittel in weiten Teilen der Bevölkerung zurückführen. Weil es Hörgeräte im Unterschied zu Brillen einfach nicht geschafft haben, sich zu einem Lifestyle-Produkt zu mausern. Vielmehr wird Schwerhörigkeit noch immer weitaus mehr als schlechtes Sehen gemeinhin als prägnantes Zeichen des Alterns angesehen. Die weithin verbreitete Alters-Eitelkeit beeinträchtigt daher erheblich die Hörgeräte-Akzeptanz. Auch wenn inzwischen die durchschnittliche Altersgrenze der Erstversorgung auf 68 Jahre gesunken ist. Weil sich dank diverser Veröffentlichungen womöglich herumgesprochen hat, dass sich zu langes Abwarten negativ auf die für das Hören zuständigen Gehirn-Nervenzellen auswirken und die Gewöhnungsphase an das Hörgerät beim Aufschieben des Problems deutlich länger dauern kann.
Dennoch wird der auch bei den neuesten und noch so kleinsten Hörgeräten sichtbare, hinter oder im Gehöreingang platzierte Knopf namens „Otoplastik" von vielen Schwerhörigen als optischer, das äußere Erscheinungsbild beeinträchtigender Makel angesehen. Weshalb viele Betroffene ihr Hörgerät nicht dauerhaft und vor allem nur ungern in der Öffentlichkeit tragen. Bei Hinter-dem-Ohr-Modellen (daher HdO genannt) wird die komplette Technik samt Verstärker in einem Gehäuse hinter der Ohrmuschel positioniert. Während die HdO’s mit dem in die Ohrmuschel adaptierten Ohrpassstück aus zwei durch ein transparentes Kabel miteinander verbundenen Komponenten zusammengesetzt sind, bestehen die kleineren In-dem-Ohr-Systeme (IdO) nur aus einem einzigen Teil. Auf dem Vormarsch sind inzwischen auch sogenannte RIC-Hörsysteme (Receiver In Cancel), bei denen es sich um HdO-Modelle handelt, bei denen der Lautsprecher über eine transparente Zuleitung direkt im Gehörgang platziert ist. Bei allen Systemen, die mehr oder weniger auf dem gleichen Prinzip des durch ein Mikrofon aufgenommenen und durch einen Lautsprecher verstärkten Schall beruhen, handelt es sich inzwischen um moderne Mini-Computer, die natürlich nichts mehr mit den frühesten Monstermodellen von vor 100 Jahren gemein haben und die im Zuge des Fortschreitens des in den 1990er-Jahren einsetzenden Siegeszugs der digitalen Hörgeräte immer weiter verfeinert wurden.