Hat Präsident Putin nach dem Angriff noch den Rückhalt in der Bevölkerung? Die Stimmung im Land ist schwer zu greifen. Menschen, zu denen FORUM Kontakt hat, sind sicher nicht repräsentativ, haben aber eine klare Meinung.
Ihren Fernseher hat Julia R. schon lange nicht mehr eingeschaltet. „Die staatlich kontrollierte Berichterstattung ist mit den Jahren ermüdend geworden“, erzählt die 63-jährige Architektin am Telefon. Dafür würde in der St. Petersburger Wohnung ständig das Radio laufen, hauptsächlich der liberale Sender Echo Moskwy. Auch die Seite der oppositionellen Zeitung „Nowaja Gezeta“ rufen alle drei Familienmitglieder – Julia lebt zusammen mit ihrer 90-jährigen Mutter Nina Vasiljevna und ihrer 39-jährigen Tochter Anna – mehrmals am Tag auf, um sich zu informieren. Dabei würde sich ihre Gefühlslage irgendwo zwischen Fassungslosigkeit, Angst und Wut abspielen. „Das, was Putin gerade anrichtet, ist unvorstellbar“, bedauert Julia. „Die Ukraine durchlebt gerade so viel Leid und Schmerz. Das ist einfach nur grausam.“ Nina Vasiljevna pflichtet ihrer Tochter bei. Trotz der späten Stunde war es der Seniorin wichtig, bei unserem Gespräch dabei zu sein. „Ich habe den Zweiten Weltkrieg hautnah miterlebt und weiß, welche Entbehrungen eine solche Zeit fordert. Das, was gerade in der Ukraine passiert, kann kein normal denkender Mensch billigen, geschweige denn wollen. Dieser Krieg muss umgehend beendet werden.“
Künstler, Blogger und Journalisten sprechen sich gegen Krieg aus
Die Rede von Wladimir Putin zum Kriegsbeginn hat sich die ganze Familie angehört. Doch die Ansprache nachvollziehen – mit 56 Minuten übertrumpfte diese Rede sogar die 52-minütige Krim-Ansprache – konnte hingegen niemand. „Er sprach von Katharina der Großen und ihrer Rolle in der Geschichte der Ukraine, von der Sowjetzeit und damit verbundenen Errungenschaften, vom Genozid der russischen Bevölkerung in Luhansk und Donezk und der Dringlichkeit, diese Gebiete als unabhängige Republiken anzuerkennen und die Ukraine entmilitarisieren und entnazifizieren zu müssen“, fasst Nina Putins Worte an die russische Bevölkerung zusammen. Für Julias Tochter hat das alles nichts mehr mit ihrer Realität gemein. „Es scheint, als würde sich Putin nicht mehr als Präsident unseres Landes sehen, der unsere Interessen vertritt, sondern als eine historische Figur mit Weltmachtanspruch. Dabei haben wir hier im Land ganz viele eigene Probleme, die dringlich gelöst werden müssen.“ Diese Meinung soll auch der inhaftierte Oppositionspolitiker Alexei Nawalny vertreten, berichtet Nina. Er wird von vielen oppositionellen Bloggern auf Youtube zitiert.
Aber auch viele weitere russische Künstler, Journalisten, und Prominente solidarisierten sich mit der Ukraine. So betitelte der Journalist, Blogger und „Mann des Jahres“ Juri Dud auf seiner Instagram-Seite den Präsidenten der Russischen Föderation als „Imperator“ und warf ihm vor, mit der Geschichte zu spielen. Er habe ihn nicht gewählt und er „unterstütze seinen imperialen Auswurf nicht.“ Es sei wichtig, darüber zu sprechen, damit man sich später nicht vor seinen Kindern schämen müsse, macht Dud Millionen Followern deutlich. Auch Journalistin Xenija Sobtschak, die Tochter des ehemaligen Bürgermeisters von St. Petersburg, Anatolij Sobtschak – zur Zeit der Sowjetunion hat der Professor für Rechtwissenschaften den jungen Putin unterrichtet und ihn 1991 als Chef des Komitees für Außenwirtschaft ins Amt geholt – ging gleich am ersten Tag des Krieges live auf Youtube, um die Ukrainer zu Wort kommen zu lassen. Auch sie verurteilte das Vorgehen Putins aufs Schärfste und sprach ihre Solidarität mit der Ukraine aus. „Alle fragen sich, was Putin vorhat und wann er endlich aufhören wird“, weiß Nina. Doch genau das bleibt weiterhin unklar. Am meisten fürchtet sich die Familie vor dem Einsatz der Atomwaffen, die Russland in Bereitschaft gebracht hat. Vier Stufen der Eskalation gibt es insgesamt. „Wir sind gerade an der zweiten Stufe angekommen“, weiß Julia. Wie schon während der Krim-Krise. Über die Zukunft möchte Julia nicht spekulieren. „Das ist alles so fürchterlich, ich möchte darüber gar nicht erst denken.“
Der Rubel befindet sich auf einem Rekord-Tief
Das staatlich kontrollierte Fernsehen zeigt dagegen ganz andere Bilder: Große militärische Vorstöße und eine erleichterte ukrainische Bevölkerung, welche die russischen Soldaten mit Jubelschreien begrüßt. Es scheint, als wäre die „Operation“, wie Putin den Krieg nennt, unter Kontrolle. Mit wenigen Verlusten auf der eigenen und zahlreichen Toten auf der anderen Seite. Offizielle Zahlen zu den gefallenen Soldaten auf russischer Seite gab es zum Zeitpunkt des Gesprächs nicht. Die Bilder, die die westlichen Medien im Internet platzieren würden, seien fingiert, würde immer wieder behauptet, und auch, dass das immer wieder gezeigte ukrainische Hochhaus gar nicht von einer russischen, sondern einer ukrainischen Rakete zerstört worden sei. „Dabei wird jede einzelne Aufnahme und jedes einzelne Bild bis ins kleinste Detail analysiert“, erzählt Julia. Doch die Antwort fällt immer gleich aus. „Alle Bilder, die etwas zeigen, was nicht der Regierungslinie entspricht, ist Fake. Die große Lüge des Westens.“ Auch von den zahlreichen Menschen, die trotz des Demonstrationsverbotes täglich in vielen russischen Städten auf die Straßen gehen, um die Ukrainer zu unterstützen, würde man in den Spätnachrichten nichts erfahren.
Die Folgen des verhassten Krieges muss die Familie schon jetzt mittragen. Das Herzensprojekt von Julia wurde zum Beispiel am dritten Tag des Angriffes auf die Ukraine auf Eis gelegt. Die Architektin sollte für einen italienischen Auftraggeber ein modernes Herrenhaus in der Toskana entwerfen. Nun muss die St. Petersburgerin erstmal abwarten, wie es überhaupt weitergehen kann. „Im schlimmsten Fall wird ein neuer Architekt gesucht.“ Was für sie schade, aber trotzdem verständlich wäre. Schließlich wird sie in der nächsten Zeit nicht aus Russland ausreisen können. „Und eine Baustelle aus der Ferne zu betreuen ist schlichtweg unmöglich.“ Auch der russische Rubel erreicht mit dem Kriegsbeginn sein bisheriges Rekord-Tief. Am vierten Kriegstag lagen der Dollar-Kurs bei 90 Rubel und der Euro bei rund 100 Rubel, welcher vor ein paar Wochen noch bei 80 Rubel war. Einen Tag später wird Russland teilweise vom Zahlungssystem Swift abgekoppelt. Die Menschen strömen in die Banken, um ihr Geld abzuheben, es bilden sich kilometerlange Schlangen. „Ich habe alles, was ich auf meinem Visa-Konto hatte, auf meine russische Geldkarte überwiesen“, beschreibt Julia die Vorkehrungen der Familien. Vor Hamsterkäufen sehen sie dagegen noch ab. „Was soll ich auch kaufen?“, stellt Julia eine rhetorische Frage. Die Vielfalt an Obst und Gemüse verschwand schon mit den Krim-Sanktionen. „Alles, was wir hier auf dem Markt in St. Petersburg haben, sind Bananen und Kartoffeln aus Belarus.“
In die Zukunft blickt die Familie mit Sorge. „Ich habe Angst, dass wir als Land von Europa abgeschnitten werden“, klagt Nina. Doch am meisten bedauert die Familie, dass die Werte des ganzen Landes von der eigenen Regierung nun mit Füßen getreten werden. „Ich glaube, es wäre für die ganze Welt eine große Erleichterung, wenn Putin plötzlich sterben würde“, sagt Nina Vasiljevna. „Auch wenn es sich sehr grausam anhört, aber sein Tod würde der ganzen Welt Frieden bringen.“