Früher galten Psychiatrien als Verwahrungsstätten für Schwerkranke. Mittlerweile lösen sich immer mehr Vorurteile auf. Dr. Ulrich Seidl, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Sonnenberg, gibt Einblicke in 50 Jahre Klinikgeschichte.
Miloš Forman hat mit seinem Klassiker „Einer flog über das Kuckucksnest" dem Kino ein filmisches Meisterwerk geschenkt, das einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Bild der Psychiatrie in der Öffentlichkeit hatte und noch immer hat. Die nach dem gleichnamigen Roman verfilmte Geschichte hat der Institution „Psychiatrie" allerdings keinen Gefallen getan, denn sie zeichnet ein Bild von Folter und Gewalt in psychiatrischen Kliniken.
Optimale Therapie und Fürsorge
Dass Filme wie „Einer flog über das Kuckucksnest" dem Image einer Heilstätte für Menschen mit psychischen Krankheiten erheblich geschadet haben, findet auch Priv.-Doz. Dr. med. Ulrich Seidl. Er ist seit 2018 als Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der SHG-Kliniken Sonnenberg damit beschäftigt, allen Patienten eine optimale, an ihren Bedürfnissen orientierte Therapie und Fürsorge zukommen zu lassen. Dass dies manchmal auch Zwang erfordert, ist tatsächlich Klinik-Realität, allerdings nur als letztes Mittel in bestimmten Ausnahmefällen. Gefährden Patienten aufgrund einer Krankheit akut sich oder andere, sind Schutz und Sicherung oberstes Gebot. Nötigenfalls auch gegen den Widerstand der Betroffenen. Dass das Bild der Festsetzung per Zwangsjacke, die heute keine Anwendung mehr findet, aber immer noch vordergründig in vielen Köpfen herumspukt, gründet auf Jahrzehnten inszenierter Dämonisierung. Kaum wird hingegen in der Populärkultur darüber berichtet, welche Fortschritte in der Behandlung psychisch erkrankter Menschen gemacht werden. Die 50-jährige Geschichte der Psychiatrie auf dem Saarbrücker Sonnenberg zeigt eine Entwicklung einer von Anfang an spezialisierten Behandlungspraxis, hin zu einer immer differenzierteren Diagnostik und Methodik innerhalb des Psychiatriebetriebs mit seinen vielfältigen Facetten, die sich in spezialisierten Abteilungen widerspiegelt.
Der hohe Standard der Saarland-Heilstätten GmbH (SHG) mit den vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten gerade am Standort Sonnenberg war laut Seidl auch eines der Hauptmotive, hier Chefarzt zu werden.
„Der Betrieb ist noch überschaubar und gleichzeitig doch so groß, dass man eine Binnendifferenzierung hinbekommt, die der gewaltigen Bandbreite unseres Fachs Rechnung trägt. Es gab von Anbeginn eine gute Basis, eine Subspezialisierung, die schon 1971 mit aus der Taufe gehoben wurde." Neben dem Gedanken der Spezialisierung entwickelte sich im Weiteren die Rehabilitation. Unter dem neuen Namen „Zentrum für Psychologische Medizin" wurde nun über die Akutbehandlung hinaus explizit die berufliche und soziale Wiedereingliederung angestrebt und in eigenen Einrichtungen realisiert. „Wir bilden heute auf dem Sonnenberg das gesamte Spektrum unseres Fachs an einem Ort ab. Das Angebot reicht traditionell von der Akutversorgung bis hin zur Überleitung in die Rehabilitation. Für wen welches Angebot passt, muss dabei genau geprüft werden. Eines meiner Kernanliegen: die Entwicklung eines klaren Blicks auf die Probleme und ihre Ursachen und daraus folgend der sorgfältige Umgang mit diagnostischen Zuschreibungen." Eine klare Trennlinie zwischen Gesundheit und Krankheit zu ziehen ist gerade in der Psychiatrie schwierig.
Zeit für die Diagnose lassen
Nicht zuletzt aus diesem Grund sind Diagnosesysteme, so die aktuell erschienene elfte Version der „Internationalen Klassifikation der Krankheiten" (ICD-11), so umstritten. Ist die Einteilung in der jetzigen Form denn wirklich brauchbar? Sind Diagnosen nicht immer auch Etiketten, die vom Zeitgeist geprägt sind, und dem einzelnen Menschen nicht gerecht werden? Dazu Seidl: „Die Gefahr, die ich bei den neuen Diagnosesystemen sehe, ist eine gewisse Unübersichtlichkeit. Die Einteilung erfolgt zum Teil gemäß der Krankheitsursachen, zum Teil nach den Symptomen." Die heutige Klassifikation habe ihren Ursprung im 19. Jahrhundert. Die historische Einteilung orientiere sich vor allem an den Grundlagen der Erkrankungen. Erstens: Zustände, die ganz klar auf eine Schädigung des Gehirns zurückgingen. Zweitens: Krankheiten, die sehr stark durch Störungen der Gehirnfunktion geprägt seien, insbesondere sogenannte Schizophrenien, manisch-depressive Erkrankungen und schwere Depressionen. Und drittens: Varianten des Normalpsychologischen einschließlich der Reaktion auf lebensgeschichtliche Ereignisse. Im ersten und zweiten Falle seien die Betroffenen typischerweise schwer erkrankt, die Krankheit habe eine eigene Qualität und könne chronisch werden. Dies könne bei allen Fortschritten der Medizin noch immer nicht zuverlässig verhindert werden. Je kranker die Menschen seien, desto weniger gelinge es ihnen unter Umständen selbst, ihre Krankheit zu erkennen und zu reflektieren. Umso wichtiger sei es hier, ein Krankheitsverständnis zu vermitteln und damit auch die Bereitschaft, sich in – auch medikamentöse – Behandlung zu begeben. Selbst bei anschlagender Behandlung könne allerdings nie von Heilung, sondern nur von Remission gesprochen werden. Das hieße, die Symptome seien nicht mehr vorhanden, aber prinzipiell könnte es zu einem Rückfall kommen. Bei Reaktionen auf Lebensereignisse, wie Trennungen oder andere Verluste, sowie bei Ängsten und Zwängen, gehe es um Therapie, vor allem Psychotherapie, die zum Ziel habe, die Zusammenhänge zu erkennen und, auch im Rahmen persönlicher Entwicklung, das Leiden zu überwinden.
Aber ist denn nun wirklich jeder, der sich schlecht fühlt, gleich ein Fall für den Psychiater? „In jedem Leben gibt es Belastungen, die nachvollziehbarerweise zu Leiden führen. Hier besteht die Gefahr, dass dieses Leiden vorschnell zur Krankheit erklärt wird, auch wenn es sich eigentlich um ganz normale Reaktionen handelt. Möglicherweise wird dann vorschnell von ‚Depression‘ gesprochen, und es werden Medikamente gegeben", erklärt Seidl. Andererseits würden schwere Depressionen auch verkannt oder die Diagnose erst spät gestellt. Zumal sich Depressive oftmals scheuten, eine Hilfe in Anspruch zu nehmen, da sie die Krankheit als Versagen empfänden und sich schämten. „Ich möchte die Not der Menschen, die nicht im eigentlichen Sinne depressiv sind, sondern unter den Belastungen des Lebens leiden, nicht herunterspielen. Natürlich sollten sie eine adäquate Hilfe bekommen, wenn sie sich überfordert sehen. Dabei gilt es aber zu vermeiden, dass Diagnosen gestellt werden, die dazu führen, dass dort, wo persönliches Engagement und Problemlösung gefragt sind, die Flucht in eine vermeintliche Krankheit erfolgt", fügt Seidl hinzu. Diese Zusammenhänge zu kennen und zu klären sei essenziell.
Dabei heißt es immer öfter, die heutige Zeit mache die Menschen krank. Ulrich Seidl wirft ein: „Sie stellt uns zweifellos vor ganz besondere Herausforderungen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass die Menschen auch in früheren Zeiten zum Teil erheblichen Belastungen ausgesetzt waren und sich an widrige Umstände anpassen mussten. Schon vor mehr als 100 Jahren gab es den Begriff der ‚Nervosität‘." Darunter verstand man ein seelisches Leiden als Folge der allgemeinen technischen und sozialen Entwicklung, mit Beschleunigung in allen Bereichen, Überreizung und Entfremdung. Gar nicht so unähnlich den späteren Konzepten des Burn-out. Prinzipiell sei jedoch eine zunehmende Bereitschaft vorhanden, sich mit Aspekten der seelischen Gesundheit und Krankheit zu beschäftigen.
„Wir wären gern flexibler"
In der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik auf dem Sonnenberg gibt es jeweils einen Bereich für Menschen mit Psychosen, für die Behandlung von affektiven Störungen, also Depressionen oder manisch-depressiven Erkrankungen, für Patienten mit Sucht- und Abhängigkeitsproblemen sowie einen Psychotherapie- und Psychosomatik-Bereich. Das Manko: Der Behandlungsrahmen ist noch immer sehr starr vorgegeben. Es gibt im Prinzip nur drei Formen: vollstationär, teilstationär oder ambulant. Ulrich Seidl erklärt, die Klinik sei durch das Abrechnungssystem dazu gezwungen, klare Grenzen zu setzen, da jeder Wechsel in der Behandlung als neuer Aufenthalt gelte und organisatorische Konsequenzen habe. „Sehr gern wären wir hier wesentlich flexibler, etwa mit der Möglichkeit, kurzfristig je nach Erfordernis das Setting zu wechseln. Auch möchten wir gern zusätzliche Behandlungsformen anbieten und insbesondere Patienten aufsuchend zu Hause behandeln", erklärt er. Das Klinikum habe schon konkret entsprechende Konzepte entwickelt, die im Rahmen eines Modellvorhabens genau dies zum ersten Mal im Saarland ermöglichen würden. Leider scheitert die Umsetzung jedoch an der fehlenden Bereitschaft der Krankenkassen. Dadurch würden einerseits Patienten individuell angepasste Behandlungen vorenthalten. Andererseits widerspreche die Haltung der Kassen der im Sozialgesetzbuch verankerten Vorgabe, dass derartige Modellvorhaben zur Verbesserung der Versorgung psychisch Kranker in jedem Bundesland durchgeführt werden sollen.
Mit dem Anspruch der SHG-Kliniken, den Patienten Geborgenheit durch Kompetenz und Freundlichkeit zu vermitteln, stellt sich die Frage, wie dies bei leidgeplagten Menschen konkret aussehen kann. Zumal diese bedingt durch ihre Krankheit dem Personal oftmals kritisch oder gar ablehnend gegenüberstehen. Ulrich Seidl erläutert, dass dazu zunächst ein Kennenlernen auf vertrauensvoller Basis und anschließend vor allem ausreichend Zeit für die richtige Diagnose – und darauf aufbauend eine angemessene, an den individuellen Bedürfnissen orientierte Therapie – unbedingt notwendig sind.
Diese Art der Behandlung hätte einen anderen Film ergeben – viele andere Filme tatsächlich. Es bleibt zu wünschen, dass die Idee einer flexibleren Behandlungsform bei den Krankenkassen über die kommende Zeit Anklang findet und mehr Kliniken in gestaltenden statt verwaltenden Händen liegen.