Nach dem Start in die Klassiker-Saison 2022 mit Mailand-San Remo am 19. März stehen im April fünf traditionsreiche Radrennen an. Tadej Pogacar möchte drei davon gewinnen, zweimal verzichtet er auf eine Teilnahme.
Nachdem sich die beiden slowenischen Rundfahrten-Dominatoren der letzten Jahre in den ersten Rennen 2022 aus dem Weg gegangen waren, allein schon, weil Primoz Roglic gewöhnlich etwas später in die Saison zu starten pflegt, stand beim ersten Frühjahrsklassiker Mailand-Sam Remo, der am 19. März über knapp 300 Kilometer geführt hatte, das erste Kräftemessen zwischen Roglic und seinem Dauerrivalen Tadej Pogacar an. Die Teilnahme von Roglic an dem längsten Eintagesrennen, das liebevoll „La Primavera" („der Frühling") oder ehrfürchtig „La Classisissima" („der Klassiker der Klassiker") getauft wurde, schon seit 1907 ausgetragen und daher zu den fünf sogenannten Monumenten des Radsports gezählt wird, war ziemlich überraschend. Aber vermutlich möchte sich Roglic 2022 endlich seinen Traum vom ersten Tour-de-France-Sieg erfüllen, wofür er seine gesamte Saisonplanung umgestellt hatte, um sich schon früh die nötige Rennhärte durch die Teilnahme an schweren Klassikern zu erwerben.
Roglic startet sonst später
Sein Landsmann Pogacar, der seit seinem Tour-de-France-Triumph 2020 nahezu alle Etappenrennen, an denen er teilgenommen hatte, für sich entscheiden konnte und wie Roglic 2022 bei der Frankreich-Rundfahrt und bei der Vuelta a España in die Pedale treten wird, hat in der noch jungen aktuellen Saison schon herausragende Leistungen gezeigt, beispielsweise durch seinen Sieg bei der UAE-Tour oder beim Strade Bianche nach einer 50 Kilometer langen Solo-Fahrt.
Kein Wunder daher, dass ihn das renommierte „Tour-Magazin" im Vorfeld von Mailand-San Remo zu den Top-Favoriten gezählt hatte, neben anderen Klassiker-Spezialisten mit Allrounder- und Puncher-Qualitäten wie dem amtierenden französischen Weltmeister Julian Alaphilippe oder dem belgischen „Primavera"-Triumphator 2020, Wout Van Aert. Allerdings hatte Europas führendes Radrennmagazin natürlich auch nicht versäumt, einige Top-Sprinter wie die beiden Australier Caleb Ewan und Michael Matthews sowie den Belgier Jasper Philipsen als Siegkandidaten anzuführen. Weil bei der „Classisissima", im Unterschied zu den im April ausgetragenen Klassikerrennen, in der Vergangenheit häufiger auch die Männer mit den schnellen Beinen als erste die Ziellinie passiert hatten. Sofern es ihnen wie dem früheren deutschen Vierfach-Sieger Erik Zabel gelungen war, sich bei den kurzen, aber extrem steilen Anstiegen namens „Capi" nicht abhängen zu lassen und auch die oft eine Vorentscheidung herbeiführenden letzten beiden Anstiege „Cipressa" und „Poggio di Sanremo" leidensfähig zu überstehen.
Auf Mailand-San Remo folgt mit der Flandern-Rundfahrt am 3. April 2022 gleich das nächste „Monument des Radsports", dessen gloriose Geschichte bis ins Jahr 1913 zurückreicht. Das Streckenprofil des heuer 272 Kilometer langen Rennens ist zwar zumeist flach gehalten, wird aber immer wieder in den „Flämischen Ardennen" durch kurze, jedoch giftig-steile Kopfsteinpflaster-Passagen in engen, von Zuschauermassen gesäumten Gassen geprägt. Spätestens hier pflegt sich die Spreu vom Weizen zu trennen, weil es regelmäßig an der Peloton-Spitze zu einer Art Ausscheidungsrennen kommt. Früher war die „Mauer von Geraardsbergen" die rennentscheidende Hauptattraktion. Da sie inzwischen aber nicht mehr so nahe am Finale gemeistert werden muss, zählen die sogenannten Hellingen Oude Kwaremont und Paterberg mit ähnlichem Steigungsgrad von 20 Prozent zu den beschwerlichsten Hindernissen vor dem Zieleinlauf. Für Pogacar von UAE Emirates dürfte es da keinerlei Probleme geben, zu seinen ärgsten Konkurrenten zählen Wout Van Aert von Jumbo-Visma, der dänische Titelverteidiger Kasper Asgreen von Quick-Step Alpha-Vinyl, der spanische Altmeister Alejandro Valverde von Movistar, der amtierende italienische Paris-Roubaix-Sieger Sonny Colbrelli von Bahrein Victorious oder vielleicht sogar Mathieu van der Poel von Alpecin-Fenix, sofern dem niederländischen Superstar rechtzeitig das Auskurieren seiner langwierigen Verletzung gelungen sein sollte. Die deutschen Hoffnungen ruhen auf Nils Politt von Bora-Hansgrohe und John Degenkolb von DSM.
Jede Strecke eine Herausforderung
Genau eine Woche nach der Flandern-Rundfahrt steht am 10. April das Amstel Gold Race an, das einzige hochklassige Eintagesrennen in den Niederlanden. Es wird erst seit 1966 ausgetragen und daher nur als „Halbklassiker" eingestuft. Aber auch die diesjährige 56. Auflage mit Start in Maastricht wird es mit dem hügeligen Profil durch die Region Limburg auf 254 Kilometern mit 33 Anstiegen wieder in sich haben. Früher war der Cauberg der letzte Anstieg vor dem Zieleinlauf, inzwischen bringen in der Regel der Geulhemmerberg und der Bemelerberg mit ihren steilen Rampen die Vorentscheidung. Am Keuterberg muss zwischendurch sogar eine Steigung von 22 Prozent überwunden werden. Eine neue Streckenführung rund um den Gulperberg, der 40 Kilometer vor dem Finale passiert werden muss, wurde dieses Jahr als vorentscheidende Attackemöglichkeit installiert. Da Pogacar nicht am Start sein wird, ist der Rennausgang ziemlich offen. Zu den Favoriten zählen fraglos Titelverteidiger Wout Van Aert. Mathieu van der Poel hat seine Teilnahme ebenso avisiert wie Van Aerts niederländischer Teamkollege Tom Dumoulin, Alejandro Valverde, Sonny Colbrelli und Kasper Asgreen. Hoch gehandelt werden aber auch Michael Matthews von BikeExchange – Jayco, der Italiener Diego Ulissi von UAE Emirates oder dessen italienischer Mannschaftskollege Matteo Trentin. Die deutschen Farben werden von Maximilian Schachmann von Bora-Hansgrohe repräsentiert.
Am 17. April steht die 118. Auflage von Paris-Roubaix, einem weiteren „Monument des Radsports", auf dem Terminkalender. Obwohl es komplett über flaches Terrain und diesmal exakt über 258 Kilometer führt, gilt es als härtestes Rennen im Cycling-Zirkus. Was natürlich an seinen gut 50 Kilometer langen Kopfsteinpflaster-Passagen liegt, die den Körper so richtig durchschütteln und enorme Tretleistungen verlangen. Die Gefahr von Stürzen und Reifenpannen ist sehr hoch, zumal viele der sogenannten Pavés eher selten benutzte historische Feldwege als Straßen sind. Je nach Schwierigkeitsstufe werden die Pavés den Kategorien 1 bis 5 zugeteilt, wobei vor allem die Passage durch den „Wald von Arensberg" (Kategorie 5) bei den Fahrern sehr gefürchtet ist, vor allem bei Regen und dann extrem glitschiger Unterlage. Paris-Roubaix gilt als ungekrönte „Königin der Klassiker" und wird stets auch als „Hölle des Nordens" bezeichnet. Rund um die Pavés findet im Feld eine wahre Abnutzungsschlacht statt, wobei sich zusätzlich die Anfahrt zu jeder Kopfstein-pflaster-Passage zu einem Zwischensprint-Finale mit Geschwindigkeiten von bis zu 60 Stundenkilometern entwickelt, weil alle Siegaspiranten diese Sektoren zur Sturzrisiko-Minimierung möglichst weit vorne liegend angehen möchten. Radsportlegenden wie Jacques Anquetil konnten sich mit dem Rennen wegen der vielen Unwägbarkeiten nie so richtig anfreunden und nannten es eine „Lotterie". Auch 2022 ist in Abwesenheit vieler Top-Stars mit Pogacar an der Spitze eine verlässliche Siegerprognose daher nur schwer möglich. Aber Wout Van Aert wird es ebenso versuchen wie Titelverteidiger Sonny Colbrelli oder der deutsche Überraschungstriumphator aus dem Jahr 2015, John Degenkolb. Auch Nils Politt wird das Rennen in Angriff nehmen.
Das Wetter spielt eine große Rolle
Bei der 86. Auflage des Flèche Wallone, einem weiteren, seit 1936 ausgetragenen Halbklassiker durch die hügeligen Ardennen zwischen Tournai und Lüttich, werden am 20. April 2022 wieder alle Top-Stars vertreten sein. Wobei sehr wahrscheinlich die Entscheidung auf dem 202 Kilometer langen Kurs erst kurz vor dem Ziel an der legendären „Mur de Huy" fallen wird, einem 1,3 Kilometer langen Anstieg mit durchschnittlich zehn Prozent und maximalen 27 Prozent Steigung. Vorjahressieger Julian Alaphilippe und sein junger belgischer Teamkollege Remco Evenepoel von Quick-Step Alpha Vinyl werden versuchen, Pogacar Paroli zu bieten. Aber vielleicht können auch Primož Roglič von Jumbo-Visma oder Alejandro Valverde beim Kampf um den Sieg mitmischen. Deutschland ist mit Maximilian Schachmann und Simon Geschke von Cofidis vertreten.
Den Abschluss macht am 24. April die 108. Auflage von Lüttich-Bastogne-Lüttich, das älteste, seit 1892 ausgetragene Radklassiker-Rennen überhaupt und daher „La Doyenne" („die Älteste") getauft. Es gilt mit seinen rund 255 Kilometern als sehr anspruchsvoller Kurs, den in den wallonischen Ardennen vor allem die Allrounder und Kletterer bevorzugen. Weil diese keine Probleme mit den häufigen „Côtes" haben, wie die kurzen und steilen Anstiege hier genannt werden und die zusammen addiert fast so viele Höhenmeter ergeben, wie eine Bergetappe bei der Tour de France. Am bekanntesten ist die Côte de la Redoute, wo sich der eine oder andere Ausreißer schon mal absetzen kann, doch die Rennentscheidung fällt meist erst kurz vor dem Finale an der Côte de Saint-Nicolas oder erst auf der lang ansteigenden Zielgeraden. Pogacar und Roglič werden ihre Siege aus 2021 und 2020, wiederholen wollen.
Aber Julian Alaphilippe könnte beiden ein Schnippchen schlagen. Auch Remco Evenepoel oder den drei Briten Adam Yates, Thomas Pidcock und Geraint Thomas von Ineos Grenadiers könnte das Streckenprofil perfekt auf den Leib geschnitten sein. Maximilian Schachmann und Simon Geschke haben bestenfalls Außenseiterchancen.