Die Krise der Demokratie verfestigt sich in Frankreich. Die Wahl zur Präsidentschaft am 10. und 24. April wird vom Krieg gegen die Ukraine überlagert. In Umfragen schiebt sich Marine Le Pen nah an Macron heran.
Der Favorit und Amtsinhaber Emmanuel Macron hat sich lange geziert und erst Anfang März seinen Hut offiziell für die Präsidentschaftswahlen am 10. und 24. April in den Ring geworfen. Sein Wahlprogramm stellte er zudem erst Mitte März vor, bereits ganz im Zeichen des Russland-Kriegs. Übrigens sehr zum Leidwesen seiner Mitbewerber um das höchste politische Amt Frankreichs. Denn die hatten ihre Themen lange vor dem Krieg formuliert. So mussten beispielsweise seine schärfsten Konkurrenten, die Rechtspopulisten und -extremen Marine Le Pen und Eric Zemmour, aber auch Jean-Luc Mélenchon von der linken Partei „La France Insoumise" in puncto Putin-Unterstützung gehörig zurückrudern. Als angeblicher Hüter des Christentums und traditioneller Werte wie Familie und „Kämpfer" gegen die westliche Dekadenz hatten Le Pen und Zemmour Putin auf ihr Schwert gehoben. Besonders Le Pen, deren Rassemblement National eine große Nähe zum russischen Machthaber mit finanziellen Krediten nachgesagt wurde, ließ Tausende Wahlkampfbroschüren wieder einstampfen, die sie in trauter Zweisamkeit mit dem russischen Machthaber zeigten.
Für die großen Wahlforschungsinstitute Frankreichs war Macron nun der große Favorit unter den zwölf Präsidentschaftskandidaten auf weitere fünf Jahre im Élysées-Palast. Eine Neuauflage des Duells zwischen Marine Le Pen und Emmanuel Macron in der Stichwahl zwei Wochen später gilt als sicher, wenn in jenen unruhigen Zeiten nicht noch etwas Unvorhersehbares passiert.
Wahlempfehlung entscheidet
Die Umfragewerte derzeit: Macron verliert Zustimmung, steht bei 28 Prozent, Le Pen holt mit 21,5 Prozent auf, Zemmour bei elf Prozent und Mélenchon bei 15 Prozent. Abgeschlagen die konservative Überraschungskandidatin der Republikaner, Valérie Pécresse, bei inzwischen unter zehn Prozent, der Kandidat der Grünen, Europaabgeordneter Yannick Jadot bei unter fünf Prozent und die sozialistische Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, bei nur noch zwei Prozent, weniger als der kommunistische Kandidat Fabien Roussel mit knapp unter vier Prozent laut dem Umfrageinstitut Ifop.
Zwar sprechen die Zahlen und die Faktenlage eine deutliche Sprache, doch zwei Unsicherheiten könnten eine zweite Amtszeit Macrons doch noch gefährden: Da ist zum einen die nicht zu kalkulierende Wahlbeteiligung. Wenn der Eindruck entsteht, die Wahl sei gelaufen, werden viele Franzosen möglicherweise dem zweiten Wahlgang fernbleiben, was die extremen Ränder begünstigt. Zum anderen kommt es darauf an, für wen die im ersten Wahlgang unterlegenen Kandidaten eine Wahlempfehlung aussprechen. Mélenchon hatte 2017 keine Wahlempfehlung abgegeben und dürfte es dieses Mal wohl wieder nicht tun. Bedenklich: Im konservativen republikanischen Lager bekennt sich der Parteifreund von Pécresse, der rechts positionierte Eric Ciotti – er bekam bei der Kandidatenkür immerhin rund 40 Prozent der Stimmen – offen zur Stimmabgabe an Zemmour. Pikant auch im rechtsextremen Lager der heillos zerstrittenen Le-Pen-Familie, dass Marion Maréchal, die Nichte von Marine Le Pen, zur Unterstützung Zemmours aufgerufen hat. Ob diese Aufrufe einen nachhaltigen Eindruck bei den Wählerinnen und Wählern hinterlassen, bleibt fraglich.
Die in den Umfragen bis fast zur Bedeutungslosigkeit geschwächten Sozialisten spielen in Frankreich kaum noch eine Rolle, die Grünen haben trotz einiger Erfolge bei den letzten Kommunalwahlen nicht den gleichen politischen Stellenwert wie in Deutschland.
Was also bleibt, ist ein schwaches Parteiensystem, das die Krise der Demokratie in Frankreich verfestigt. Wie sonst ist zu erklären, dass in einem urdemokratischen Land eine aus dem Nichts entstandene Bewegung wie La République en Marche um Präsident Macron und die Parteien vom extremen rechten und linken Rand um Le Pen und Zemmour sowie um den linken Populisten Mélenchon die stärksten Kräfte sind, und das bereits zum zweiten Mal hintereinander? Unter diesem Aspekt dürften die Wahlen zur Nationalversammlung nach der Präsidentschaftswahl im Juni überaus spannend werden. Dabei stellt sich die Frage, ob der künftige Präsident Frankreichs auch eine Mehrheit im Parlament haben wird. Kritiker machen für das schwache Parteiensystem neben dem Mehrheitswahlrecht das System selbst verantwortlich: die starke Stellung des Präsidenten und die schwachen Kontrollrechte des Parlaments – ein System, das von Charles de Gaulle bei Gründung der Fünften Republik 1958 selbst so gestaltet wurde.
Auch wenn die etablierten Parteien in Frankreich derzeit kaum großen Einfluss auf das politische Geschehen haben, so werden die Franzosen in unsicheren Zeiten nicht mit dem Feuer spielen und vermutlich auf das Altbewährte setzen, sprich Emmanuel Macron. Der Krieg überschattet weiter den französischen Präsidentschaftswahlkampf und hat gar die Corona-Pandemie in den Hintergrund gedrängt.
Die Angst geht um in Frankreich. Die Energie- und die Nahrungsmittelversorgung spielen daher eine große Rolle. Der Bau weiterer Atomkraftwerke sowie der Ausbau der regenerativen Energieerzeugung sollen die Energieautarkie vorantreiben, und auch bei Nahrungsmitteln strebt Frankreich eine Selbstversorgung an. Das wird von den meisten Parteien auch nicht kontrovers debattiert. Wenig Kontroverses gibt es zudem bei der Außenpolitik, eine Domäne, die traditionell dem französischen Präsidenten zufällt. Schon allein wegen der Nähe zu Putin vermeiden Macrons größte Konkurrenten Le Pen, Zemmour und Mélenchon eine derartige Debatte. Hinzu kommt, dass der europafreundliche Macron als derzeit französischer EU-Ratspräsident eh alle Trümpfe in der Hand hält und seine Agenda, die eine Stärkung der EU nach innen und außen vorantreiben will, aufgrund des Kriegs in Europa auf fruchtbaren Boden fällt.
Debatte um die innere Sicherheit
Anders sieht es in der Innenpolitik aus: Eines von Macrons größten Reformvorhaben, die Rentenreform, musste der Präsident während seiner ersten Amtszeit zurücknehmen. In den nächsten fünf Jahren möchte er dies erneut angehen – und lehnt sich dabei weit aus dem Fenster: Das Rentenalter soll sukzessive auf 65 Jahre angehoben werden, ohne dass die Sonderprivilegien für Angestellte der französischen Eisenbahn abgeschafft werden. Le Pen spricht dagegen von einem Rentenalter von 62 Jahren, Mélenchon gar von 60 Jahren.
Derzeit vermeidet Macron jegliche innenpolitischen Konflikte, um einer „neuen" Gelbwestenbewegung keinen Vorschub zu leisten. So wurden so gut wie alle Corona-Maßnahmen abgeschafft, die Benzinpreise gesenkt und die Strompreise gedeckelt. Bis jetzt hat der Präsident sogar eine Diskussionsrunde im Fernsehen mit Mitbewerbern abgelehnt, um keine Angriffsflächen zu bieten.
Kontrovers diskutiert wird in Frankreich dennoch ein Thema, die innere Sicherheit. Zwar überschattet auch hier der Krieg die Debatte um Islam und Terrorgefahr, aber das Thema ist latent vorhanden. Zurzeit läuft der Prozess um die Terroranschläge von 2015. Das nicht aufgearbeitete Erbe des Algerienkriegs – dieses Jahr jährt sich das Ende des Kriegs zum 60. Mal – wird das Thema innere Sicherheit spätestens zu den Parlamentswahlen auf die Agenda bringen. Zugegebenermaßen wurde Frankreich durch die Anschläge von Paris und Nizza, durch den terroristischen Überfall auf eine Kirche in der Normandie oder durch die Enthauptung eines Lehrers stärker vom islamistischen Terror überzogen als andere westeuropäische Länder. Wenn man aber bedenkt, dass vor allem die Rechtsextremen den Islam und Terror zum Kern ihrer Daseinsberechtigung gemacht haben, zeigt das einmal mehr, wie kolossal die Integration der Muslime in Frankeich gescheitert ist.
Frankreich ist gesellschaftlich gespalten. Ob die Franzosen trotz ihrer Art, sich nicht gern etwas vorschreiben zu lassen, den extremen Parteien die Rote Karte zeigen und mit Macron einen starken Befürworter Europas erneut ins Präsidentenamt wählen. Auch wenn er nicht unbedingt der Lieblingspräsident aller Franzosen ist.