Der Internationale Strafgerichtshof hat Ermittlungen gegen die russische Regierung wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgenommen. Nun muss noch entschieden werden, ob Anklage erhoben wird.
Wer wünscht sich nicht, dass Präsident Putin und seine Machtclique zu einem späteren Zeitpunkt in Den Haag auf der Anklagebank sitzen? 40 Vertragsstaaten haben förmlich die Aufnahme von Ermittlungen beantragt. Damit kann Karim Ahmad Khan, Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) zunächst „auch ohne richterliche Genehmigung tätig" werden, so der Völkerrechtler Claus Kreß. Milizenführer, Kriegsherren und Waffenhändler – sie alle standen schon in Den Haag unter Anklage und mussten sich vor dem IStGH verantworten. Er nahm seine Tätigkeit am 1. Juli 2002 auf und steht außerhalb der Vereinten Nationen (UN). Seine juristische Grundlage ist das Römische Statut vom 17. Juli 1998. Der Strafgerichtshof verfolgt vier Kernverbrechen: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression. Das Römische Statut geht zurück auf Resolutionen der Vereinten Nationen und Vorarbeiten der Völkerrechtskommission. Es wurde von einer Staatenkonferenz angenommen, die 1998 in Rom tagte. Der Internationale Strafgerichtshof ist durch einen völkerrechtlichen Vertrag eine auf Dauer angelegte juristische Einrichtung.
Der IStGH ist nicht zu verwechseln mit den Kriegsverbrechertribunalen, die sich mit dem Jugoslawienkrieg und dem Völkermord in Ruanda beschäftigten. Diese Tribunale wurden vom Sicherheitsrat der UN jeweils für die Rechtsprechung in einem bestimmten Konflikt ins Leben gerufen. Das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen ist der Internationale Gerichtshof (IGH), der ebenfalls in Den Haag sitzt. Die Ukraine hat dort Anklage gegen Russland wegen Völkermord eingereicht.
Kriegsherren und Milizenführer
Der IStGH wird von dem nigerianischen Richter Chile Eboe-Osuji geleitet, Chefankläger ist, wie bereits erwähnt, seit 2021 der britische Jurist Karim Ahmad Khan. Der IGH setzt sich aus 15 Richtern zusammen, die aus 15 Ländern stammen und so die wichtigsten Kulturkreise und Rechtssysteme vertreten. Der IStGH wird von derzeit 123 Vertragsstaaten unterstützt, darunter sind alle Staaten der Europäischen Union. Länder wie China, Indien, die Vereinigten Staaten, Russland, die Türkei und Israel haben das Römische Statut entweder gar nicht unterzeichnet, das Abkommen nach der Unterzeichnung nicht ratifiziert oder ihre Unterschrift zurückgezogen.
Das Mandat des IStGH erlaubt es nur, die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Individuen festzustellen, nicht von Staaten. Der Gerichtshof wird dann tätig, wenn die nationalen Strafverfolgungsbehörden nicht willens oder nicht in der Lage sind, entsprechende Verbrechen zu verfolgen. Parteien vor dem Internationalen Gerichtshof können nur Staaten sein, jedoch keine internationalen Organisationen. Die Ukraine ist zwar kein Vertragsstaat des Weltstrafgerichts. Allerdings hat das Land in Erklärungen die Zuständigkeit des Gerichts bei der möglichen Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf seinem Territorium seit November 2013 akzeptiert.
Am 14. März 2012 erließ der IStGH sein erstes Urteil und verurteilte den ehemaligen Milizenführer Thomas Lubanga wegen Rekrutierung von Kindersoldaten im Zuge des zweiten Kongokrieges. Das Strafmaß wurde am 10. Juli 2012 verkündet: 14 Jahre Freiheitsstrafe.
Bis März 2022 war die Anklagebehörde mit insgesamt 27 Konfliktsituationen befasst. Geografisch betrafen 13 Situationen Afrika, acht Asien, fünf Südamerika und eine Europa. So nahm der IStGH im November 2019 wegen der Vertreibung der muslimischen Rohingya offizielle Untersuchungen in Myanmar wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf.
Übrigens: Staats- und Regierungschefs genießen keine Immunität. Das zeigt der Fall des ehemaligen sudanesischen Präsidenten Umar al-Baschir: Die Regierung des Sudan hatte den Ex-Regierungschef aufgrund jahrzehntelanger schwerer Menschenrechtsverletzungen 2021 an den IStGH ausgeliefert. Dem war die Entscheidung vorausgegangen, dass die absolute Immunität amtierender Staatsoberhäupter nicht gilt. Seit der Annexion der Krim 2014 durch Russland und verstärkt seit dem Beginn des Ukraine-Krieges ermittelt der IStGH zu möglichen Kriegsverbrechen in der Ukraine.
Genau für Fälle wie Putin gemacht
Chefermittler Khan sprach bereits Anfang März von „plausiblen Gründen", die auf Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinwiesen. Die UN drängt auf eine unabhängige Untersuchung, die Berichte aus Butscha und anderen Gebieten „werfen ernste und beunruhigende Fragen über mögliche Kriegsverbrechen, schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und schwerwiegende Verletzungen der internationalen Menschenrechte auf", so UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet. Schon der gezielte Angriff auf ein ziviles Kernkraftwerk wie Tschernobyl kann als ein Kriegsverbrechen verfolgt werden.
Ein Hauptproblem bei den Ermittlungen ist aber: Es fehlen Geld und Fachkräfte. Chefankläger Karim Ahmad Khan forderte die Vertragsstaaten auf, Sondermittel und auch Experten zur Verfügung zu stellen. Einige Staaten wie Großbritannien sagten dies zu. Entscheidend ist, dass Beweise so früh wie möglich sichergestellt werden, selbst wenn die Kämpfe noch andauern. Massengräber müssen unter Umständen wieder geöffnet werden, Leichen identifiziert und wenn möglich obduziert werden. Es muss deutlich sein, dass es sich um wehrlose Bürger handelte. Munitionsreste, Fotos, Videos, Satellitenaufnahmen können wichtige Beweise sein. Entscheidend sind auch die Aussagen von Augenzeugen.
Auch der deutsche Generalbundesanwalt und andere europäische Strafverfolgungsbehörden haben Verfahren eingeleitet. Die Anzeige durch die ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und den früheren Innenminister Gerhart Baum soll den beiden Juristen zufolge zu einer Anklage nach dem Weltrechtsprinzip führen. Das ist möglich, weil in Deutschland seit 20 Jahren das Völkerstrafrecht gilt. Seitdem können Strafverfahren auch gegen Taten, die von Ausländern im Ausland begangen wurden, hierzulande verfolgt und gegebenenfalls zur Anklage vor einem deutschen Gericht gebracht werden. Das geschah in jüngster Vergangenheit gegen Täter aus dem syrischen Bürgerkrieg. Aktuell steht ein syrischer Arzt vor dem Oberlandesgericht Frankfurt. Er soll Regimegegner brutal gefoltert und einen jungen Mann getötet haben.
Aber wie wahrscheinlich ist es, dass Putin in Den Haag auf der Anklagebank sitzen wird?
Der Völkerrechtsexperte Christoph Safferling von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sagte dazu in der „Welt": „Er kann sich jedenfalls nicht sicher sein … Der Internationale Strafgerichtshof ist genau für solche Fälle geschaffen worden: dass man bis hinauf zu Staatenlenkern alle Personen, die Leid über Menschen gebracht haben, zur Verantwortung ziehen kann. Eine Prognose für Putin kann ich nicht geben. Ich kann nur aus Erfahrung der letzten Jahrzehnte sagen: Die Mühlen der Justiz mahlen. Sie mahlen möglicherweise langsam, aber sie mahlen."