Borussia Mönchengladbach war lange ein Vorzeigeclub in Deutschland. Erfolgreich mit eigenen, seriösen Mitteln, ambitioniert und doch bescheiden. Doch nun steht der Altmeister am Scheideweg.
Wie viel zwischen Borussia Mönchengladbach und seinen treuen Fans kaputtgegangen ist, zeigte eine extreme Szene Ende April. Kapitän und Fan-Liebling Lars Stindl hatte bei den in dieser Saison extrem starken Freiburgern in der Nachspielzeit das 3:3 gerettet und lief jubelnd in die Kurve, um sich feiern zu lassen. Einige Fans jubelten auch, doch viele andere empfingen Stindl mit Frust, Wut und Beschimpfungen. Der Ex-Nationalspieler schaute irritiert, trat einmal in die Bande, schüttelte mit dem Kopf und ging von dannen. Nach dem Spiel versuchte Stindl es noch mal, führte das Team in die Kurve. Wieder gab es einen Mix aus Aufmunterung und Unmutsbekundungen, also schickte Stindl das Team schnell wieder zurück. Und obendrein blieben Hunderte Gladbach-Fans laut „Rheinischer Post" nach dem Spiel noch länger im Gästeblock und pfiffen die Eingewechselten und auf der Bank gesessenen Spieler aus – sodass diese ihr Auslaufprogramm vor die Freiburger Kurve verlegten.
Das Ganze war deshalb so heftig, weil die Borussia an diesem Tag eben keine 1:3-Derby-Niederlage gegen den Erzrivalen 1. FC Köln kassierte. Doch diese, eine Woche zuvor, hatte eben solche Spuren hinterlassen. Sie war für die Fans im negativen Sinne die Krönung einer erschreckend schwachen Saison und einer bedenklichen Entwicklung. So hatten sie die Spieler in Freiburg mit einem Plakat empfangen mit der Aufschrift: „Kein Kampf, kein Wille, kein Charakter – ihr seid eine Schande für Stadt und Verein!". Und die Enttäuschung saß so tief, dass sie auch dieses Spiel nicht versöhnen konnte, in dem die Borussia nach guter Leistung 2:0 führte und nach dem 2:3-Rückstand noch mal Moral zeigte und den Punkt rettete. Das war so ungewöhnlich, dass sogar Freiburgs Trainer Christian Streich sein Unverständnis äußerte und Mitleid mit den Spielern und seinem Kollegen Adi Hütter empfand. „Die Fans dürfen nicht vergessen, dass du nicht immer nur um die Champions League spielen kannst, auch nicht mit Gladbach", sagte Streich: „Sie müssen schauen, dass sie vernünftig bleiben. Das ist wichtig für den Trainer, die Mannschaft und das Umfeld. Ein Derby zu verlieren, ist nicht der Weltuntergang."
Selbst Streich empfand Mitleid
Aber dieses Derby war wie gesagt ja auch nur die Spitze des Eisbergs. Vor der Saison hatten viele gedacht, dass die Gladbacher – wie immer in den vergangenen Jahren – um den Europacup, ja sogar um die Champions League würden mitspielen können. Der vorherige Frankfurter Hütter hatte 7,5 Millionen Euro Ablöse gekostet, der Kader war nominell so gut bestückt wie lange nicht mehr. Und zu was er fähig ist, zeigte er auch vor allem gegen die Bayern. In der Liga gab es ein 1:1 zu Hause und ein 2:1 in München, im Pokal sogar ein rauschhaftes 5:0. Dennoch rutschte diese Mannschaft in den tiefsten Abstiegssog. Weil sie immer wieder komplette Aussetzer hatte, die von Kritikern als sinnbildlich gesehen wurden für mangelnde Einstellung oder auch mangelnde Identifikation mit dem Verein. Allen voran das 0:6 zu Hause gegen Freiburg, das schon nach 37 Minuten Bestand hatte und noch deutlich heftiger hätte enden können, wenn der SC danach nicht zwei Gänge rausgenommen hätte. Das 1:4 im Derby-Hinspiel in Köln, das 0:4 im rheinischen Duell in Leverkusen, das 0:6 in Dortmund oder das 0:3 im Pokal-Achtelfinale bei Zweitligist Hannover. Das waren ein paar Aussetzer zu viel und sie waren auch etwas zu heftig gewesen. Und so stellte Adi Hütter nach dem Spiel in Freiburg eine „Kluft" zwischen Club und Anhang fest.
Doch wie konnte es so weit kommen? Schließlich war die Borussia in den vergangenen Jahren sehr konstant gewesen. Die Gladbacher sind in einer Tabelle der vergangenen zehn Jahre Vierter. Sie beendeten jede Saison auf einem einstelligen Tabellenplatz, erreichten dreimal den Europacup und auch dreimal die Champions League. Und schienen gerade im Herbst 2020 auf dem Zenit, als sie unter dem gefeierten Trainer Marco Rose die Vorrunden-Gruppe mit Real Madrid und Inter Mailand überstanden. Doch am 15. Februar 2021 wurde bekannt, dass Rose den Verein verlässt und nach Dortmund wechselt. Danach verlor die Mannschaft sieben Pflichtspiele in Folge. Dass Manager Max Eberl Rose nicht vorzeitig entließ – möglicherweise, um die fünf Millionen Ablöse aus Dortmund nicht zu gefährden – gilt für viele Gladbach-Fans bis heute als erster Beleg dafür, dass er sein Gespür verloren habe. Denn für Rose hatte Eberl einst den erfolgreichen Dieter Hecking gehen lassen, weil er glaubte, mit diesem Trainer langfristig noch einige Schritte nach vorne machen zu können. Als Rose dann die Ausstiegsklausel nutzte, brach für viele Fans eine Welt zusammen. „Sie haben Rose als Heiland empfangen, doch haben sie sich letztlich verraten gefühlt", schrieb die „Rheinische Post". Hütter hätte deshalb schon eine „verletzte" Mannschaft übernommen. Weil Rose dieser auch gezeigt habe, dass die andere Borussia die Alternative mit deutlich mehr Potenzial war.
Eberls Gespür hatte jahrelang einzigartig funktioniert. Eberl holte Spieler, die ideal zur Borussia passten und verkaufte sie gewinnbringend. Marco Reus kam für eine Million aus Ahlen und ging für 17 Millionen nach Dortmund. Granit Xhaka holte Eberl für 8,5 Millionen aus Basel und bekam für ihn später 45 Millionen vom FC Arsenal. Mit Thorgan Hazard machte er 17,5 Millionen Euro Transfer-Gewinn, Jannik Vestergaard brachte ein Plus von 12,5 Millionen, Mo Dahoud von zwölf. Und im aktuellen Kader schienen mit Denis Zakaria, Marcus Thuram, Florian Neuhaus, Ramy Bensebaini, Jonas Hofmann oder Alassane Pléa noch einige Kandidaten für teure Transfers.
Im Sommer droht weiterer Aderlass
Doch irgendwo genau da liegt wohl das Problem. Zu viele Spieler in diesem Kader sahen die Borussia wohl als Durchgangsstation. Und im Sommer 2021 gipfelte das Ganze darin, dass Eberl für Spieler wie Thuram oder Pléa keine Abnehmer zu den gewünschten Preisen fand. Und den Fehler machte, mit Zakaria und dem 2014er-Weltmeister Matthias Ginter ohne Vertrag ins letzte Jahr zu gehen. In der falschen Hoffnung, sie würden noch verlängern. Der einst 17 Millionen teure Ginter geht nun ablösefrei, Zakaria musste schon im Winter an Juventus Turin abgegeben werden, um wenigstens noch fünf Millionen plus mögliche Zuschläge zu retten.
Nun steht bei der Borussia im Sommer alles auf dem Prüfstand. Das vermeintliche Tafelsilber aus Spielern wie Neuhaus, Thuram, Pléa oder Breel Embolo hat kräftig an Wert verloren. Dennoch scheint bei vielen von ihnen die Karre so verfahren, dass man sich eigentlich wird trennen müssen. Im Gegenzug überlegen sich eigentlich verwurzelte Spieler, die unbedingt gehalten werden sollen, wie der auch in dieser Saison bärenstarke Yann Sommer oder Nationalspieler Hofmann angesichts von Verträgen bis 2023, ob sie nicht lieber doch noch was anderes machen sollen. Und nicht zuletzt hat der Abgang von Eberl den Verein ins Mark getroffen. Der Manager, der Ende Januar trotz eines Vertrages bis 2026 unter Tränen zurücktrat, weil er sich ausgebrannt fühlte, hatte wie angedeutet einen Teil seines Gespürs verloren. Doch obwohl er deshalb mancherorts auch in die Kritik geraten war, war Eberl Borussia Mönchengladbach. Das Gesicht des Vereins, der Baumeister des Erfolges, der Vater der erfolgreichen Mannschaften der vergangenen Jahrzehnte.
Ihm folgte Roland Virkus (55). Ein Mann, der Borussia verinnerlicht hat, in Mönchengladbach geboren ist und seit 23 Jahren als Jugendtrainer, Leiter des Internats oder Nachwuchs-Koordinator für den Club arbeitete. Der aber noch nie im Profi-Fußball gearbeitet hat. Über dessen Außenwirkung es unterschiedliche Meinungen gibt. Und der schon zwei Monate nach Amtsantritt auf einer Pressekonferenz nach einem angeblich schwierigen Verhältnis zur Mannschaft befragt wurde.
Jener Roland Virkus soll nun einen der größten Umbauten eines erfolgreichen Bundesligisten in den vergangenen Jahrzehnten leiten. Möglichst viel Geld für die einen reinholen, möglichst die Richtigen halten und möglichst wieder ein paar Juwele finden, die irgendwann selbst zu Gesichtern oder Tafelsilber für den Verein werden.
Das ist eine Mammut-Aufgabe. Um zumindest in dieser Hinsicht Klarheit bei Vertragsgesprächen zu haben, stellte Virkus immer klar, dass Hütter trotz der frustrierenden Premieren-Saison bleiben wird. Ob das einzuhalten ist oder ob diese Thematik doch eine Dynamik erhält, die den Verein überrollt, bleibt abzuwarten.