Deutschland muss sich auf einen Kraftakt beim Energiesparen einstellen
Deutschland durchläuft einen Testfall, den sich niemand gewünscht hat. Seit dem vergangenen Montag wird die Erdgas-Pipeline Nord Stream 1 gewartet, zehn Tage lang. In dieser Zeit fließt kein Gas von Russland nach Deutschland. Doch es kann durchaus sein, dass Moskau den Hahn für immer zudreht – als Vergeltung für die harschen Sanktionen des Westens und die Waffenlieferungen an die Ukraine. Als Folge würden die Gaspreise für Verbraucher und Unternehmen massiv ansteigen. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag befürchtet gar, dass die Konjunktur im Winter mit einem zweistelligen Minus in den Keller rauscht.
Bereits im Juni leitete Russland 60 Prozent weniger Gas durch die rund 1.200 Kilometer lange Pipeline. Angeblich, weil eine von Siemens Energy in Kanada flottgemachte Gas-Turbine wegen der westlichen Sanktionen nicht geliefert wurde. Die Regierung in Ottawa gab nun zwar grünes Licht für eine zeitlich begrenzte Entsendung der Maschine. Diese soll zuerst nach Deutschland und von dort nach Russland verschickt werden. Doch in Berlin herrscht große Skepsis, dass der Kreml stur bleibt.
Vor diesem Hintergrund malen Vertreter der Bundesregierung düstere Szenarien. Wirtschaftsminister Robert Habeck warnt: „Wir müssen uns auf das Schlimmste einstellen." Der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, mahnt, dass Familien pro Jahr 2.000 bis 3.000 Euro zusätzlich für Gas hinblättern könnten. Für einige heißt ein derartiger Kostensprung, dass der nächste Urlaub oder die Anschaffung einer neuen Waschmaschine wackelt. Für andere könnte es den finanziellen Ruin bedeuten.
Habeck, Müller und andere wählen drastische Worte, weil sie die Gesellschaft aufrütteln wollen. Dieser Ansatz ist richtig. Die Energie-Krise wird ernst. Sie lässt sich aber stemmen, wenn alle an einem Strang ziehen. Das Land braucht einen gewaltigen Kraftakt – und Solidarität mit den Bedürftigen. Wichtig dabei: Es gibt nicht die eine Zauberlösung per Knopfdruck. Der Erfolg wäre die Summe von vielen Einzelschritten.
Die Politik hat bereits konkrete Signale gesetzt. Der Grünenpolitiker Habeck ist über seinen ideologischen Schatten gesprungen und antichambriert bei den Scheichs in Nahost für zusätzliche Gaslieferungen. Die Bundesregierung, die als Bannerträgerin der ökologischen Transformation angetreten ist, reaktiviert Kohlekraftwerke. Diese sollen Strom erzeugen, damit die Gaskraftwerke zusätzliche Ressourcen für die Auffüllung der Gasspeicher haben.
Hier wurde bereits ein beträchtlicher Weg zurückgelegt. Die Gasspeicher, die vor wenigen Wochen bis auf rund 30 Prozent geleert waren, haben wieder einen Füllstand von rund 67 Prozent. Wenn es durch kluges Energie-Management gelingt, den Pegel auf 100 Prozent hochzutreiben, könnte die Gasversorgung für drei Monate reichen. Im besten Fall würde das Land über einen milden Winter kommen.
Darüber hinaus prüfen Landtage und Landesregierungen, Räumlichkeiten in der kalten Jahreszeit weniger stark zu beheizen und die Klimaanlagen im Sommer herunterzudrehen. Gut so! Beim großen Thema Energiesparen ist jedoch nicht nur die Politik gefragt. Die Firmen müssen ebenso beisteuern wie die Bürgerinnen und Bürger.
Wirtschaftsminister Habeck wird derzeit von einigen als Lobbyist des Verzichts belächelt. Doch seine Appelle sind berechtigt: Ein Grad weniger Heizung im Winter kann die Energiekosten um fünf Prozent drücken, bei zwei Grad wären es zehn Prozent. Das ist nicht nichts! Eine Neujustierung des Gas-Heizsystems im Sommer könnte noch einmal 15 Prozent bringen. Dabei wäre zu überlegen, ob Bürger und Betriebe, die besonders viel einsparen, einen Extra-Bonus bekommen.
Es versteht sich von selbst, dass ein Sozialstaat wie Deutschland bei nach oben schießenden Heizkosten als Korrektiv auftritt. Geringverdiener und Bedürftige sollen nicht in ihren Wohnungen frieren. Sie müssen Ausgleichszahlungen erhalten.
Wenn die Gesellschaft in der Energiekrise zusammenhält, beweist sie in mehrfacher Hinsicht Stärke. Sie macht dem russischen Präsidenten Wladimir Putin deutlich, dass sie einen brutalen Angriffskrieg in Europa nicht duldet. Und sie zeigt mentale und zivilisatorische Kraft. Es wäre die richtige Antwort für den Kremlchef, der den Westen für schwach und dekadent hält.