Mit den erst zum zweiten Mal ausgetragenen European Championships steht Mitte August das größte internationale Sport-Event seit der Fußball-WM 2006 auf dem Programm.
Die Idee hinter den 2018 erstmals ausgetragenen European Championships, die damals noch an zwei Veranstaltungsorten, Glasgow und Berlin (Leichtathletik-Wettkämpfe), über die Bühne gegangen waren, war das gemeinsame Bestreben verschiedenster Disziplinen, die sich selbst außerhalb der Olympischen Spiele nur als Randsportarten verstehen. Auch öffentlich wurden sie nur als solche wahrgenommen und wollten mit den Championships einen Kontrapunkt gegen die mediale Omnipräsenz des Fußballs setzen.
Statt nur eine Europameisterschaft in ihrer eigenen Sportart mit wegen niedriger Einschaltquoten kaum vorhandenem Interesse der TV-Anstalten durchzuführen – jüngstes Beispiel war die vom deutschen Fernsehen komplett ausgesparte Schwimm-WM in Budapest – wollten die entsprechenden kontinentalen Verbände ein europäisches Mega-Event mit einem Verbund mehrerer Randgruppen-Sportarten präsentieren.
Vom 11. bis 21. August steht die zweite Auflage der European Championships an, wobei alle Wettkämpfe in oder rund um München stattfinden werden. Seit der Fußball-WM 2006 hat es hierzulande keine Sportveranstaltung in ähnlichem Größenmaßstab mehr gegeben. Die Gastgeberstadt feiert zeitgleich das 50. Jubiläum der Olympischen Spiele 1972, die bis zum palästinensischen Attentat weltweit bewundert als heitere Spiele in die Geschichte eingegangen waren. Wie schon bei der ersten Austragung spielt in München die Nachhaltigkeit wieder eine entscheidende Rolle: Bereits bestehende Sportstätten und Infrastrukturen sollen möglichst genutzt werden, um die Kosten niedrig zu halten und damit die Akzeptanz beim Steuerzahler und dem heimischen Umfeld zu befördern. Das Münchener Budget wurde mit 130 Millionen Euro veranschlagt, davon sollen 100 Millionen Euro zu jeweils etwa einem Drittel von der Stadt München, dem Freistaat Bayern und dem Bund sowie die Restsumme aus Vermarktungserlösen beigesteuert werden.
Größere mediale Präsenz
Der Olympiapark mit dem von der legendären Zeltkonstruktion überspannten Olympiastadion bildet das lokale Herzstück des Events, für das sich die Organisatoren auch ein offizielles, einem Eichhörnchen nachempfundenes Maskottchen namens Gfreidi zugelegt haben. Die Kanu- und Ruderwettbewerbe werden auf der Olympia-Regattastrecke in Oberschleißheim ausgetragen, Turnen in der Olympiahalle, Tischtennis in der Rudi-Sedlmayer-Halle, Bahnrad in einer Messe-Halle und weitere Disziplinen wie Beachvolleyball oder Klettern publikumswirksam mitten in der Stadt auf dem Königsplatz. Ganz im Geiste der Spiele von 1972 sollen die European Championships 2022 über das rein Sportliche hinaus ein heiteres Festival-Feeling in der Stadt verliehen bekommen, dank eines mit Musik-Topstars gespickten Rahmenprogramms, das schon die Eröffnungsfeier am 10. August 2022 prägen wird.
Waren bei den European Championships 2018 sieben Sportarten vertreten (Deutschland gewann damals 13 Gold-, 17 Silber- und 23 Bronzemedaillen), so sind es in München diesmal neun. Wobei Schwimmen und Golf rund um die Isar heuer nicht mehr vertreten sind. Stattdessen werden rund 4.700 Athletinnen und Athleten in insgesamt 176 Entscheidungen um die Medaillen in den Disziplinen Leichtathletik, Kunstturnen, Radsport, Rudern und Triathlon kämpfen sowie in den erstmals vertretenen Sportarten Beachvolleyball, Tischtennis, Klettern und Kanu-Rennsport. Als Zeichen für Inklusion wurden zwölf Wettbewerbe im Para-Kanu und vier im Para-Rudern mit ins Programm aufgenommen. Das deutsche Publikum kann sich auf ausführliche Berichterstattung durch die beiden öffentlichen Rundfunkanstalten freuen. ARD und ZDF begleiten das von ihnen als „Klein-Olympia" titulierte Event mit bis zu 13 Stunden Live-Übertragung pro Tag.
Leichtathletik-EM
Knapp drei Wochen nach dem für das deutsche Team geradezu desaströsen und mit gerade mal zwei Medaillen-Gewinnen schlechtesten Abschneiden in der WM-Geschichte bietet sich den heimischen Sportlern die Chance auf Wiedergutmachung. Zumal eine ganze Reihe von deutschen Spitzensportlern die Heim-EM als eigentlichen Saisonhöhepunkt deklariert hatte, um damit das Debakel im amerikanischen Eugene etwas schönzureden. Im Münchener Olympiastadion, wo sich insgesamt etwa 1.500 europäische Leichtathleten messen werden, müssen sie nun liefern. Die beiden einzigen Lichtblicke der jüngsten WM, Weitspringerin und Goldmedaillen-Gewinnerin Malaika Mihambo, sowie die 100-Meter-Sprintstaffel der Frauen, die bei der WM sensationell Bronze errungen hatte, dürften auch in München zu den Top-Favoriten zu zählen sein. Ein großes Fragezeichen dürfte hingegen nach der Eugene-Enttäuschung hinter den beiden deutschen Langstrecken-Stars Gesa Felicitas Krause und Konstanze Klosterhalfen stehen. Zehnkämpfer und Ex-Weltmeister Niklas Kaul ist sicher für eine Überraschung gut. Bei den einst siegverwöhnten deutschen Speerwerfern ist noch unklar, ob Johannes Vetter nach langem Verletzungspech rechtzeitig fit werden und ob Thomas Röhler endlich zu seiner früheren Top-Form zurückfinden wird. Im Frauen-Diskus dürfte Claudine Vita nach ihrem fünften Platz bei der WM zum Favoritenkreis gehören. Großes Kino werden wohl wieder der schwedische Stabhochsprung-König Armand Duplantis, der jüngst den Weltrekord auf 6,21 Meter hochgeschraubt hatte, oder auch der Norweger Karsten Warholm beim 400-Meter-Hürdenlauf bieten.
Tischtennis-EM
In der Rudi-Sedlmayer-Halle ist im deutschen Team alles am Start, was Rang und Namen hat. Bei den Herren dürfte Gold wohl an einen der deutschen Top-Spieler fallen, die Frage ist nur, ob das Altmeister Timo Boll, Tokio-Bronzemedaillen-Gewinner Dimitrij Ovtcharov oder der für Saarbrücken spielende Patrick Franziska sein wird, dem unlängst das Kunststück gelungen war, den als nahezu unschlagbar geltenden chinesischen Olympiasieger Ma Long zu bezwingen. Eine Überraschung ist auch den beiden das Herrenteam komplettierenden Benedikt Duda oder Dang Qiu zuzutrauen. Das starke siebenköpfige deutsche Damenteam wird nach der Verletzungsabsage von Titelverteidigerin Petrissa Solja von Ying Han (Weltranglistenplatz 7) angeführt. Auch in den Doppel- und Mixed-Wettbewerben sind die deutschen Vertreter allemal für Medaillen gut.
Kunstturn-EM
In Abwesenheit der starken Russen werden die Karten in der Olympiahalle neu gemischt. Von den fünf DTB-Herren werden Andreas Toba, dem Vize-Europameister am Reck, und Tokio-Barren-Silber-Gewinner Lukas Dauser die größten Medaillen-Chancen eingeräumt. Das fünfköpfige deutsche Damen-Team wird von Kim Bui angeführt, auch die gebürtige Saarbrückerin Pauline Schäfer-Betz und Elisabeth Seitz könnten im Kampf um die vorderen Plätze an ihren Spezialgeräten Schwebebalken beziehungsweise Stufenbarren mit eingreifen.
Triathlon-EM
Den Auftakt über die olympische Distanz mit 1,5 Kilometer Schwimmen, 40 Kilometer Radfahren und zehn Kilometer Laufen macht das Kraulen durch den Olympiasee, danach geht es rund um den Olympiapark. Die Deutsche Triathlon Union hat jeweils fünf Starter bei den Herren und Damen gemeldet. Wobei Laura Lindemann nach ihrem achten Platz in Tokio am höchsten einzuschätzen ist. Bei den Männern rechnen sich Lasse Lührs, Lasse Priester, Tim Hellwig und Jonas Schomburg eine Podest-Chance aus.
Beachvolleyball-EM
Der Publikumsmagnet kann hautnah am Königsplatz erlebt werden. Spätestens seit dem Olympiasieg von Laura Ludwig und Kira Walkenhorst 2016 ist das hiesige Interesse an der Sportart riesig. Deutschland ist mit neun Teams im Wettbewerb vertreten. Bei den Frauen: Svenja Müller/Cinja Tillmann, Karla Borger/Julia Sude, Sandra Ittlinger/Isabel Schneider, Chantal Laboureur/Sarah Schulz und Kira Walkenhorst/Louisa Lippmann. Bei den Männern darf man gespannt sein auf Nils Ehlers/Clemens Wickler, Lukas Pfretzschner/Robin Sowa und Paul Henning/Sven Winter.
Radsport-EM
Gleich in vier Disziplinen wird um die Europameister-Titel gekämpft. Die Bahnrad-Wettbewerbe mit deutschen Favoriten wie Roger Kluge, Lea Sophie Friedrich, Emma Hinze oder Lisa Brennauer in einer eigens umgebauten Halle der Münchener Messe. Die BMX-Wettkämpfe – Lara Lessmann mit Medaillen-Potenzial – und Mountainbike-Entscheidungen (Max Brandl und Ronja Eibl am aussichtsreichsten) im Olympiapark, das Straßenzeitfahren in Fürstenfeldbruck und die beiden Straßenrennen für Damen und Herren aus dem Alpenvorland in die Münchener City.
Kanu-Rennsport-EM
In dieser Disziplin mit den Bootsgattungen Kajak und Canadier dominiert Deutschland traditionell die Weltspitze, allerdings gibt es gewisse terminliche Überschneidungen mit der Sprint-WM im kanadischen Halifax. Mal schauen, ob Sebastian Brendel, Max Lemke, Jacob Schopf, Tim Hecker, Jule Hake & Co. an den Start gehen werden.
Kletter-EM
Mit einem 20-köpfigen Aufgebot unter Führung von Alexander Megos, Yannick Flohé und Hannah Maul nehmen die deutschen Kletterer die EM in Angriff. Wobei es um Medaillen in vier Disziplinen geht: Bouldern, Lead, Speed und im Mix Boulder und Lead.
Ruder-EM
Der amtierende Welt- und Europameister Oliver Zeidler möchte auf seiner Heimbahn die Olympia-Pleite von Tokio vergessen machen. Gespannt sein dürfte man auch auf das Abschneiden des stark verjüngten deutschen Paradeboots, dem Deutschland-Achter.