Neben einem hart erkämpften Punkt nahm Union Berlin vom Auswärtsspiel in Mainz auch zwei wichtige Erkenntnisse mit: Die Defensive steht – und der breite Kader bietet Alternativen.
Den 1. September hat sich Oliver Ruhnert rot im Kalender angestrichen. An jenem Tag geht nichts mehr auf dem Transfermarkt – zumindest für ein paar Monate nicht. Er freue sich auf diesen Tag, weil er dann nicht mehr „zwei-, dreimal mein Handy aufladen muss", wie der Sport-Geschäftsführer halb im Scherz sagte. Das Problem ist natürlich nicht die Akku-Laufzeit seines Mobiltelefons, sondern der enorme Stress, den eine Transferperiode für die Manager der Fußball-Bundesliga mit sich bringt. Vor allem bei einem Club wie Union Berlin.
Bei den Eisernen gibt es seit der Aufstiegssaison 2018/19 Jahr für Jahr große Personalveränderungen im Kader. Der diesjährige Sommer hat da keine Ausnahme gemacht: Ein Dutzend Spieler haben Union verlassen, ähnlich viele neue Profis sind gekommen. Geplant war das zwar nicht unbedingt, aber Ruhnert ist Pragmatiker. Weil Grischa Prömel zum Beispiel seinen Vertrag nicht verlängern wollte und Taiwo Awoniyi von seiner Ausstiegsklausel Gebrauch machte, weil Andreas Voglsammer unbedingt seinen England-Traum verwirklichen wollte oder Dominique Heintz für mehr Spielpraxis auf einen Wechsel zum VfL Bochum drängte – auf alles musste Ruhnert reagieren. Im Fall von Prömel und Awoniyi fiel ihm das nicht leicht, aber: „Du musst auch wissen, wo du in der Nahrungskette stehst."
Noch kann der langjährige Zweitligist nicht mit englischen Clubs oder Bundesliga-Vereinen wie TSG Hoffenheim mithalten. „Man kann nicht sagen, dass es einem egal ist. Man verliert manche Spieler nur sehr ungern und würde sie gerne weiter im Team haben", sagte der 50-Jährige beim Streamingdienst DAZN: „Aber wenn du in dieser Branche bist, dann kannst du dem nachtrauern – oder du kannst versuchen, das bestmöglich wettzumachen." Das ist Ruhnert wieder einmal grandios gelungen, urteilen Experten. Vor allem Stürmer Jordan Siebatcheu, Mittelfeldspieler Janik Haberer und Innenverteidiger Diogo Leite haben schon ihre Klasse nachgewiesen.
Ruhnert will nicht hadern
Bei der Beurteilung, ob der aktuelle Kader sogar noch besser besetzt ist als der aus der Vorsaison, tut sich Ruhnert schwer. „Ich glaube", sagte der Geschäftsführer ausweichend, „er ist in der Breite so aufgestellt, dass er uns durch drei Wettbewerbe bringen wird." Dass auf der Bundesliga trotz der Highlight-Spiele in der Europa League, die zu Hause im Stadion an der Alten Försterei stattfinden können, das Hauptaugenmerk liegt, ist für Ruhnert selbstverständlich. Denn das Hauptziel Klassenerhalt sei in dieser Spielzeit durch den Aufstieg der Schwergewichte Schalke 04 und Werder Bremen keine Selbstverständlichkeit. „Die Bundesliga ist so eng geworden", meinte Ruhnert, „im Vorbeigehen holt man da in keinem Spiel etwas."
Symbolisch dafür stand das 0:0 am vergangenen Wochenende auswärts beim FSV Mainz 05. Bei brütender Hitze von mehr als 30 Grad erkämpften sich die Unioner einen Punkt, für das Spielniveau schämten sie sich aber ein wenig. „Ich hätte gerne jedem Zuschauer ein ansehnlicheres Spiel geboten, aber das Leben ist kein Wunschkonzert", sagte der Ersatzkapitän Rani Khedira, dessen Bruder, der 2014er-Weltmeister Sami Khedira, von der Tribüne aus zugeschaut hatte. Auch Trainer Urs Fischer sprach von einem „zähen Spiel", bei dem er aber zumindest in Sachen Einstellung nichts zu meckern hatte: „Als Trainer bin ich zufrieden, dass meine Mannschaft versucht hat, über 90 Minuten konzentriert, kompakt und griffig zu bleiben."
Das wird auch im kommenden Heimspiel am Samstag (20. August/18.30 Uhr) vonnöten sein. Denn an der Alten Försterei tritt Champions-League-Starter RB Leipzig als Gegner an – und die ambitionierten Sachsen haben nach dem Fehlstart (zwei Punkte aus zwei Spielen) etwas gutzumachen. Entsprechend forsch dürften Timo Werner und Co. gerade zu Beginn auftreten, darauf wird Fischer sein Team einstellen. Doch nur tief verteidigen wird gegen den hochklassig besetzten Leipziger Kader nicht reichen. Und mit dem Offensivspiel war Fischer gegen Mainz nicht einverstanden. „Da gibt es noch etwas zu tun", sagte der Trainer: „Das Spiel mit dem Ball war nicht präzise genug, nicht mutig genug." Deshalb freute er sich auch auf die Analyse der 90 Minuten in Mainz. Von den Zuschauern dürfte sich die lahme Partie ohne große Höhepunkte wohl niemand ein zweites Mal angeschaut haben.
Für Jordan Siebatcheu, der zuletzt beim knappen Pokalsieg beim Regionalligisten Chemnitzer FC und im Stadtderby gegen Hertha BSC jeweils ein wichtiges Tor geschossen hatte, war die Begegnung höchst undankbar. Der Stoßstürmer wurde von den Mainzer Abwehrspielern meist schon bei der Ballannahme aggressiv gestört, und Hereingaben hinter die Kette bekam er so gut wie keine. Bis zu seiner Auswechslung in der 70. Minute brachte es der Franko-Amerikaner nur auf einen Torschuss und 30 Ballkontakte. Dennoch glaubt Fischer, dass der sechs Millionen Euro teure Neuzugang mittelfristig den abgewanderten Awoniyi, der parallel für seinen neuen Club Nottingham Forest gegen West Ham United den 1:0-Siegtreffer erzielte, ersetzen kann. „Er hat nicht die gleiche Geschwindigkeit wie Taiwo, aber auch ihn kann man in die Tiefe schicken", sagte der Coach: „Er hat seine Qualitäten." Dazu würden die Ballbehauptung und vor allem der Torinstinkt zählen, so Fischer: „Im Strafraum ist er zu Hause, da ist er gefährlich."
Thorby deutete seine Klasse an
Ein weiterer Neuzugang durfte seine Premiere im rot-weißen Union-Trikot feiern: Morten Thorby. Der Norweger, der kurz vor Saisonstart mit viel Vorschusslorbeeren von Sampdoria Genua verpflichtet worden war, deutete bei einem 30-Minuten-Auftritt seine Klasse an und warb für einen Startelfeinsatz gegen Leipzig. „Er war engagiert, war viel unterwegs, ging in die Duelle und hat auch hinten ausgeholfen", lobte Fischer. Doch der Schweizer, der Spieler eher langsam in ein funktionierendes Team integriert, bremste auch. „Er hat noch ein bisschen Rückstand und braucht Zeit, bis er physisch wirklich topfit ist." Dabei würde der halbstündige Einsatz in Mainz „sehr helfen". Mehr als eine Joker-Rolle dürfte Thorby, der als designierter Nachfolger von Prömel im zentralen Mittelfeld gilt, wohl auch gegen Leipzig nicht einnehmen. Eine Erkenntnis des Spiels beim FSV war, dass Fischer seine vermeintliche Startelf wohl gefunden hat. Gegen Mainz nahm er lediglich eine personelle Veränderung vor: Statt Kapitän Christopher Trimmel kam Niko Gießelmann ins Team. Der 30-Jährige besetzte die linke Außenbahn, dafür rückte Allrounder Julian Ryerson von der linken auf die rechte Seite.
Auch in Zukunft könnte es für das Trio zum „Job-Sharing" kommen, wie Fischer andeutete, „weil es alle drei in den Spielen gut gemacht haben". Doch nicht nur Rio-Weltmeister Sami Khedira, der als Experte bei DAZN das Spiel kommentierte, hatte zunächst Trimmels scharfe Flanken und dessen Standardstärke gegen Mainz vermisst. Ruhnert mischt sich in Aufstellungs-Fragen nicht ein. Er ist froh darüber, dass er seinem Trainer einen Kader zusammengestellt hat, der qualitativ gleichwertige Alternativen bietet. Dafür nahm der Geschäftsführer auch einen stressigen Transfer-Sommer in Kauf – und bis zum 1. September bleibt die Anspannung hoch. „Alle Manager in der Bundesliga wissen, dass sie immer ein Auge offen haben müssen. Davon kann man sich nicht freimachen", sagte Ruhnert: „Deswegen ist man froh, wenn das Fenster irgendwann zu ist."