Die Forderung nach Gesundheit als eigenes Schulfach gibt es nicht erst seit Corona. Im neuen Schuljahr wird daraus nichts. Der Vorstandschef der IKK Südwest, Jörg Loth, und Josef Mischo, Chef der Ärztekammer des Saarlandes, sehen aber eine ganze Reihe guter Argumente, die für dieses Anliegen sprechen.
Herr Loth, Herr Mischo, wofür brauchen wir ein eigenes Schulfach „Gesundheit"?
Loth: Unser Anliegen ist, Gesundheitskompetenz zu erhöhen, das Gespür für den eigenen Körper, für Bewegung, Ernährung, Gesundheit insgesamt zu wecken. Deshalb haben wir als IKK die Forderung nach Gesundheit als Schulfach erhoben. Als wir das formuliert hatten, wussten wir noch nicht, dass sich die Deutsche Ärzteschaft auf einem Kongress fast zeitgleich mit dem Thema beschäftigt und die gleiche Forderung auf den Weg gebracht hat.
Mischo: Es ist die Frage, ob ich dieses umfangreiche Thema bisher als eine Art Querschnittsaufgabe ausreichend vermitteln kann, oder ob es nicht erst dadurch das notwendige Gewicht bekommt, wenn es als Schulfach mit festgelegter Stundenzahl und festgelegtem Curriculum vermittelt wird. Wir sehen wohl, dass es Einzelengagements gibt wie gesundheitsfördernde Schulen. Das ist toll, was dort auf die Beine gestellt wird. Wir glauben aber, wenn man das Thema auf verschiedene Fächer verteilt, ist das nicht systematisch genug und geht unter.
Wie soll so ein Fach „Gesundheit" aussehen?
Mischo: Zuerst müssten die Themen festgelegt und ein Curriculum erstellt werden. Da wären Krankenkassen, die Ärzteschaft, Sozialwissenschaftler und Pädagogen gefordert. Das Thema Gesundheitskompetenz ist extrem komplex. Dazu gehört zum Beispiel zu wissen, wie das Gesundheitssystem überhaupt aufgebaut ist. Es gibt eine Tendenz, mit jeder Frage gleich zu einem Facharzt zu gehen. In den meisten Fällen kann aber jeder gute Hausarzt untersuchen und therapieren. Oder wenn ich in ein Krankenhaus muss: In welche Klinik gehe ich? Die Frage, wo ich hingehe, ist bereits ein Teil der Gesundheitskompetenz. Und dann gehört dazu die Frage, wie ich Symptome bewerte, oder auch, wie bewerte ich, was Ärzte mir sagen. Und: Wie bereite ich mich auf einen Arztbesuch vor, damit der Arzt weiß, was er mit mir anfangen kann, beispielsweise: Welche Voruntersuchungen sind schon gemacht? Es geht auch insgesamt um die Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Bei älteren Menschen bin ich beispielsweise heilfroh, wenn Angehörige dabei sind. Es ist also ein ganz breites Spektrum von Fragen wie die nach der Struktur und dem Aufbau des Gesundheitswesens, oder: Wo bekomme ich welche Hilfe bis zur Rücksprache mit Krankenkassen oder auch der Bewertung von Krankheitssymptomen. Ernährung, Bewegungsmangel bis zu Genussmitteln sind große Themen, die man auch in Schulen umfassend ansprechen muss. Für all das muss man ein systematisches Curriculum erstellen.
Themen, die umfassende Behandlung erfordern
Das alles könnte man auch verteilt über andere Fächer vermitteln.
Mischo: Vieles gibt es schon, aber all das braucht viel mehr Systematik. Ich glaube, dass viele Lehrer es als Erleichterung empfinden würden, wenn es in einem Fach gebündelt würde. Wir müssten natürlich Unterstützung geben: Dafür sehe ich in der Ärzteschaft große Bereitschaft, beispielsweise auch mit in den Unterricht zu gehen.
Loth: Diese Systematik in der Vermittlung ist notwendig und wird auch von uns als Kasse unterstützt. Unser Ziel ist dabei ein übergreifendes: Das Gefühl für den Körper, und das Gefühl für die eigene Gesundheit zu entwickeln. Und warum als eigenes Schulfach? Weil wir bei den ganz Kleinen anfangen müssen, sie für die eigene Gesundheit zu sensibilisieren. Wir reden dabei auch besonders über Zivilisationskrankheiten: Übergewicht, Fettstoffwechselstörungen, Bluthochdruck und Diabetes mellitus Typ 2, also die sogenannte Zuckerkrankheit. Wir nennen das das „tödliche Quartett", und das betrifft zunehmend mehr jüngere Menschen. Allein bei Diabetes mellitus Typ 2 gibt es jeden Tag 1.600 neue Diagnosen. Das war früher die Erkrankung älterer Menschen. Jetzt sehen wir, dass sich der Eintrittszeitpunkt immer weiter nach vorne verschiebt, immer mehr Jugendliche und junge Menschen bekommen diese Diagnose. Was uns dabei umtreibt: Diese Krankheit ist weitgehend vermeidbar durch Prävention, Bewegung sowie gesunde und bewusste Ernährung. Deshalb ist wichtig, alles dafür zu tun, dass diese Erkrankungen erst gar nicht entstehen und die Kinder früh Informationen erhalten und sensibilisiert werden. Und was wir dann im Rahmen der Prävention auch feststellen: Ganz viele Kinder übertragen das Gelernte und ihre Erkenntnisse auch auf ihre Eltern und die Familie.
Mischo: Wir meinen, Schule muss natürlich die Grundlagen und Wissen vermitteln, aber ganz wesentlich auch die Fähigkeit, das Wissen weiterzuentwickeln und auch unterscheiden zu können, was seriöses Wissen und was Fake ist. Das ist gerade im Bereich Gesundheit, wo vieles in der Welt ist, besonders wichtig.
Loth: Die GKV fördert bereits Projekte in Schulen. Es gibt sehr gute Projekte und Schulen, die sehr aktiv sind, aber es gibt eben auch Schulen, die wenig, und andere, die noch gar nichts in diesem Bereich machen oder machen können. Das gilt ganz ähnlich auch für Kitas. Das ist die Grundproblematik: Es gibt keine ausreichende Verbindlichkeit. Deshalb unsere Forderung nach Konzentration der durchaus komplexen Inhalte in einem separaten Schulfach. Dann könnte man auch verstärkt Kinder und Jugendliche aus bildungsferneren Schichten erreichen. Und genau bei denen sieht man auch verstärkt das Auftreten der erwähnten Zivilisationskrankheiten.
Es gibt eine ganze Reihe anderer Forderungen nach zusätzlichen Schulfächern, die auch gut begründet werden.
Loth: Man sollte das eine nicht gegen das andere ausspielen. Natürlich sind andere Bereiche auch wichtig, wie zum Beispiel die Informatik und der Umgang mit der zunehmenden Digitalisierung sowie wirtschaftliche Kompetenz. Aber wie heißt es so schön: Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. Denn Untersuchungen haben gezeigt: Etwa 80 Prozent aller Krankheiten sind vermeidbar.
Aufklärung wichtig für freie Entscheidung
Mischo: Es gibt bundesweit seit 2018 eine Allianz für die Förderung der Gesundheitskompetenz, da sind das Gesundheitsministerium, die Kultusministerkonferenz und 14 Institutionen, darunter auch die Ärztekammer und andere, dabei. Das ist also schon sehr fokussiert. Und da wird auch gefordert, Gesundheitskompetenz in Bildungseinrichtungen und in der Lebenswelt Schule zu thematisieren.
Wenn der Anteil vermeidbarer Erkrankungen so hoch ist, was bewirkt dann Prävention?
Loth: Man ist nur bereit, ernsthaft und nachhaltig etwas zu vermeiden und auf etwas zu verzichten, wenn man die damit verbundenen Chancen und ebenso die Problematik und Gefahr erkennt. Bei einem adipösen Kind oder Jugendlichen tut im aktuellen Moment vielleicht noch nichts weh, aber wenn es jetzt nichts tut, kommen in vier, fünf Jahren die meist negativen Auswirkungen. Deshalb ist Aufklärung wichtig. Es soll jeder frei entscheiden können, wie er sich verhalten will, dazu muss er aber auch gut informiert sein über Chancen und Risiken des eigenen Verhaltens oder einer Therapie. Das gilt dann übrigens auch für die Debatte ums Impfen, die wir in diesem Herbst wieder bekommen werden. Auch bei der Entscheidung über eine Therapie ist es elementar wichtig, dass sich Arzt und Patient sozusagen auf Augenhöhe austauschen. Wir nennen das eine partizipative Entscheidungsfindung. Das gelingt nur dann, wenn der Patient in der Lage ist, seine gesundheitliche Situation selbst einschätzen zu können und gut informiert ist. Hierzu haben wir kürzlich im Saarland das Netzwerk Patientensicherheit mit vielen Akteuren aus dem Gesundheitsbereich initiiert, auf- und ausgebaut.
Ist das nicht ein sehr hoher Anspruch?
Loth: Es gibt dafür ein Best-Practice-Beispiel, die Patientenuniversität der Medizinischen Hochschule Hannover. Hört sich hochtrabend an, ist es aber nicht. Dort geht es darum, die Breite der Bevölkerung für das Thema zu sensibilisieren, durch klassische Vorträge, vor allem aber mit Besichtigungen vor Ort. Das ist richtig gut gemacht, und das Interesse daran ist sehr hoch. So etwas könnten wir uns für das Saarland auch sehr gut vorstellen. Aber dafür ist natürlich ein Invest nötig.
Was antworten Sie auf die Vorhaltung, Kassen würden Prävention nur betreiben, um Kosten zu sparen?
Loth: Das muss ein Ziel sein, ist jedoch nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Zunächst geht es darum, Krankheiten zu vermeiden. Das ist für das Individuum der größte Effekt. Inzwischen steigen auch Kommunen in die Prävention nach und nach ein. Es geht darum, um es ganz simpel zu sagen: die Menschen gesünder halten. Und natürlich ist es so, dass Krankheiten, die nicht entstehen, nicht therapiert und damit nicht durch die Solidargemeinschaft finanziert werden müssen. Und wenn 80 Prozent der Krankheiten vermeidbar sind und es uns gelingt, das bei einem guten Teil davon zu schaffen, dann hat das natürlich auch einen Effekt auf die Frage, wie wir das Gesundheitssystem künftig finanzieren. Deutschland hat nach wie vor ein gutes und leistungsfähiges Gesundheitssystem. Wir müssen aber auch alles dafür tun, dass das auch so bleibt.