Das gegenwärtige Chaos bei der Bahn könnte mit digitalisierten Signalsystemen in den Griff zu bekommen sein. Erstmals rüstet ein gesamtes Land seine Schiene mit diesen Systemen auf. Und dabei soll es nicht bleiben.
Vielfach umgibt die Bahn noch die alte, romantische Aura des Analogen. Das entspricht aber nicht mehr der Realität, schon längst ist sie in die digitale Zukunft aufgebrochen. Auch wenn es für die Fahrgäste noch nicht so wirkt: stundenlange Verspätungen, kaputte Züge, ausgefallene Verbindungen. „Chaos bei der Bahn" ist vor allem in den vergangenen Jahren zum geflügelten Wort geworden.
Andererseits: Vor noch nicht allzu langer Zeit waren die Schaffner in den Zügen ausschließlich mit einer Zange zum Markieren der Fahrkarten unterwegs, heute mit Lesegeräten, das Ticket wird vielfach auf dem Handy-Display vorgezeigt.
Und dennoch war das System Bahn finanziell lange stiefmütterlich behandelt worden, während im Autoland Deutschland große Summen in den Straßenbau gesteckt wurden. Der Klimawandel hat die Situation deutlich verändert, nun muss es die gute alte Eisenbahn richten. Bis 2030 soll der Deutschlandtakt auf der Bahn eingeführt sein, die Fahrgastzahlen sollen sich bis dahin verdoppeln.
Auch den Güterverkehrsanteil auf der Schiene will die Politik deutlich erhöhen. Das alles auf einer Infrastruktur, die zum Großteil noch aus dem 19. Jahrhundert stammt. In sie wird nun hastig investiert, aber das lässt sich im laufenden Betrieb nicht von heute auf morgen umsetzen. Schon jetzt haben die Bauarbeiten einen großen Anteil am Chaos auf der Schiene.
Der Umbau braucht Geld und Zeit
Was also tun? ETCS, European Train Control System, lautet eines der Zauberworte; ein digitales Signalisierungssystem, das mehr Züge auf dem bestehenden Schienennetz zulässt. Es ist einheitlich für Europa normiert und wird derzeit schrittweise in den einzelnen Staaten umgesetzt. Denn seit Beginn der Eisenbahn hat jedes Land sein eigenes Signalisierungssystem, was den internationalen Bahnverkehr bis heute wesentlich erschwert.
Erstmals wird jetzt ein ganzes Land mit ETCS ausgestattet: Siemens rüstet Norwegens Bahnsystem um, das Land investiert 800 Millionen Euro in sein Schienennetz von 4.000 Kilometern. Am Ende wird es nur mehr ein einziges Stellwerk in Oslo für das gesamte Netz geben. 350 Bahnstationen im ganzen Land müssen bis 2034 dafür ausgebaut werden, 400 neue Bahnübergänge sind zu schaffen. 7.000 Achszählpunkte müssen an der Strecke eingebaut werden und 10.000 sogenannte Balisen, Informationspunkte am Gleis, die ihre Informationen an den Zug übertragen, sobald er sie passiert. Zehn Jahre werden die Arbeiten wohl dauern.
ETCS bedeutet auch Abschied nehmen von einem vertrauten Bild, das die Eisenbahn bisher geprägt hat: Rot und Grün zeigende Signale entlang der Schienenstrecken werden bald verschwinden. Sie werden ersetzt durch Anweisungen, die direkt von einem zentralen Stellwerk in die Führerstände der Triebfahrzeuge übertragen werden.
Vorbei ist es auch mit dem Gebimmel an Bahnübergängen, in Gang gesetzt durch den Schrankenwärter im Häuschen daneben, und mit dem klackernden Geräusch der Kette, wenn er den Schranken herunterkurbelt. In der neuen automatisierten Welt genügt ein prüfender Blick auf den Monitor, viele Kilometer entfernt.
Bisher waren Bahnstrecken in Blockabstände eingeteilt. Befand sich ein Zug in einem solchen Block, durfte der folgende Zug nicht hineinfahren. Die nächste Stufe von ETCS nennt sich moving blocks, sagt Jörg Nikutta, Sprecher der Geschäftsführung von Alstom Transport Austria: „Das heißt, dass um die Züge herum eine virtuelle Blase sich befindet, wo kein zweiter Zug drin sein darf. Das ist wie der Mindestabstand auf der Autobahn, aber dahinter darf gleich der nächste Zug kommen." So schafft man es, auf bestehender Infrastruktur noch mehr Züge sicher hintereinander fahren zu lassen als bisher.
Im folgenden Schritt wird laut Nikutta ein Zentralrechner das Betriebssystem so steuern, dass Züge nicht mehr auf freier Strecke anhalten müssen, etwa weil ein anderer Zug kreuzt. Denn Anhalten und Wiederanfahren kostet besonders bei Güterzügen Zeit und Energie. Künftig wird so vorausschauend gesteuert, dass die Züge früher abgebremst werden ohne Anhalten zu müssen.
Es sind keine Ungetüme aus Stahl und Aluminium, keine auf den ersten Blick greifbaren Innovationen, die von der Bahnindustrie entwickelt werden, sondern Applikationen und Verknüpfungen. Die Infrastruktur wandert dabei in die Cloud, Unmengen an Kabeln werden vermieden. Weitere Effekte: weniger Wartung, weniger Fehleranfälligkeit und dadurch geringere Lifecycle-Kosten. Ein neues System von Siemens etwa steht auch anderen Nutzern wie Herstellern von Türen oder Bremsen offen.
Das Londoner Verkehrsunternehmen Thameslink verwendet dieses System: „40 Prozent der Wartungsaufträge kommen vom Zug selbst in London", sagt Michael Peter, Chef von Siemens Mobility. „Das heißt, der Zug sagt: Meine Tür wird in zwei Wochen ein Problem haben, also lass sie uns bitte jetzt reparieren." Das muss aber auch der Türproduzent wissen. Den Totalausfall einer Tür frühzeitig zu vermeiden spart Zeit und Geld. Bis zu vier Milliarden Datenpunkte im Jahr werden beim System von Thameslink gesetzt. Die Verfügbarkeit der Fahrzeuge erreicht dadurch 100 Prozent, die Lifecycle-Kosten sinken um 20 Prozent.
Dies alles passiert hinter den Kulissen des Bahnbetriebs, von den Fahrgästen weitgehend unbemerkt. Doch auch sie werden sich wohl umzustellen haben: „Heute gibt es in der Regel eine Subventionierung im Nahverkehr von etwa 50 Prozent des Ticketpreises und freie Kapazitäten im Fernverkehr von 45 Prozent", rechnet der Siemens-Mobility-Chef vor. „Im Schnitt ist gerade etwas mehr als jeder zweite Platz in einem Zug belegt. Das heißt, wenn Sie durch Digitalisierung schaffen, dass jeder Zug voll ausgelastet ist, vielleicht auch, weil Sie die Preise mittags oder in der Woche um 20 Prozent reduzieren, dann hätten Sie immer noch auf diesem Sitz 80 Prozent mehr Umsatz gemacht und das Geld reingespielt."
Reservierungspflicht wie im Flugzeug
Die Konsequenz heißt: Reservierungspflicht wie im Flugzeug. Darum werden die Bahnbetreiber nicht herumkommen, meint die Industrie. Aber dieses Reservierungssystem werde ein intelligentes sein. Die Fahrgäste könnten in Zukunft viel mehr Informationen über einen Zug abrufen als heute, wenn sie einen Sitzplatz reservieren möchten. Ihre Flexibilität büßen sie dadurch nicht ein, sie erhalten sogar mehr Transparenz: So wird man noch kurz vor Abfahrt des Zuges die Reservierung ändern können, wenn die App etwa darüber informiert, dass die Toilette im Waggon nicht funktioniert, die Klimaanlage im benachbarten Wagen besser arbeitet oder anderswo mehr Plätze frei sind.
Außerdem soll das System den Betreibern die nötigen Auskünfte über das Buchungsverhalten ihrer Kundschaft liefern. Mithilfe Künstlicher Intelligenz werden sich insbesondere in städtischen Regionen vor bestimmten Ereignissen, vom Fußballspiel bis zum Popkonzert, die Fahrgastströme berechnen lassen: wie groß sie ausfallen werden und zu welchem Zeitpunkt sie aus welchen Richtungen zu erwarten sind, damit ausreichend Bahnen zur Verfügung gestellt werden können.
Pünktlicher, reibungsloser und ohne unplanmäßigen Halt werden die Züge aufgrund verstärkten Einsatzes der Digitalisierung künftig unterwegs sein, verspricht Jörg Nikutta von Alstom. Neben dem Personenverkehr hält sie auch im Güterverkehr Einzug. Viele Buchungsprozesse auf Papier werden dort von schneller digitaler Kommunikation abgelöst werden. Die Kunden werden sich genau informieren können, wo sich gerade ihre Ware befindet und wann sie ankommt.
Zudem ist gerade ein Probezug mit digitaler automatischer Kupplung in Europa unterwegs, damit künftig das mühsame Aneinanderhängen der Güterwaggons von Hand entfallen kann. Ende des Jahres soll entschieden, ab 2026 europaweit eine halbe Million Güterwaggons umgerüstet werden.
In einiger Ferne, wenngleich anvisiert, steht das autonome Fahren auf der Schiene. In Paris, Nürnberg und demnächst auch in Wien ist es in der U-Bahn bereits Realität, bei der „großen" Bahn wird man noch etwas warten müssen.