Der Sensationscoup bei den Olympischen Spielen von Peking 2022 hat die deutschen Ski-Langläuferinnen aus dem sportlichen Schattendasein herauskatapultiert. Gold und Silber in Teamwettbewerben wecken Hoffnungen für die anstehende Weltcup-Saison, auch wenn nur Katharina Hennig eine Siegkandidatin sein dürfte.
Aus deutscher Sicht war es die mit Abstand größte Sensation der Olympischen Winterspiele 2022. Ausgerechnet die Ski-Langläuferinnen sorgten in Peking für einen geradezu märchenhaften Coup. Dabei hatten sie bei der Heim-WM in Oberstdorf ein Jahr zuvor noch ein wahres Debakel erlebt und waren lediglich im Staffelrennen mit dem fünften Platz annähernd in Medaillen-Reichweite gekommen. Schon der Gewinn der Silbermedaille am 12. Februar im Staffel-Wettbewerb über 4x5 Kilometer in der Besetzung Katharina Hennig, Sofie Krehl, Katherine Sauerbrey und Victoria Carl hatte kaum jemand für möglich gehalten. Dass dieses Ergebnis vier Tage später durch den Goldmedaillen-Triumph von Katharina Hennig und Victoria Carl in dem im klassischen Stil ausgetragenen Team-Sprint sogar noch getoppt werden konnte, sorgte nicht nur beim überglücklichen Bundestrainer Peter Schlickenrieder, sondern auch bei Millionen von deutschen Fernsehzuschauern für ungläubiges Staunen.
Hennig bereits dreimal auf Weltcup-Podest
Zumal die Chancen des deutschen Damenduos auf einen erträumten Podestplatz durch einen personellen Wechsel unmittelbar vor dem Start völlig geschwunden schienen, da die eigentlich nominierte Katherine Sauerbrey kurzfristig aus gesundheitlichen Gründen passen musste. Weder Hennig noch Carl hatten in ihrer Karriere jemals einen Weltcup-Sieg landen können. Hennig hatte es immerhin dreimal auf das Weltcup-Podest geschafft und gilt innerhalb des gesamten deutschen Langlauf-Teams nun schon seit Jahren als einziges Mitglied, das sich ernsthaft mit der Weltspitze messen kann. Dass sich die beiden Deutschen schließlich gegen die favorisierten Schwedinnen, Finninnen, Russinnen und US-Amerikanerinnen durchsetzen konnten, grenzte da fast an ein sportliches Wunder. Überraschend war, dass Hennig und Carl scheinbar mühelos die stetige Tempoverschärfung mitgehen konnten. In der dritten Runde hatte Hennig erstmals die führende Position für das deutsche Team übernommen und mit einem Zwischenspurt die Konkurrenz auf einige Meter distanziert. Auf der Zielgerade schienen dann aber doch die Russinnen und Schwedinnen den Sieg unter sich ausmachen zu können, Deutschland konnte auf Bronze hoffen. Doch dann zündete Victoria Carl den Turbo, brauste zunächst mit kraftvollen Doppelstockschüben an der Russin vorbei und konnte kurz vor der Ziellinie auch noch keine Geringere als die frisch gebackene schwedische Sprint-Olympiasiegerin Jonna Sundling hinter sich lassen.
Um diese grandiose Leistung richtig einzuordnen, sollte man wissen, dass Deutschland in 98 Jahren Winter-Olympiade gerade mal fünf Goldmedaillen im Ski-Langlauf errungen hat. Der letzte Sieg vor Peking war auf das Konto des Damen-Sprint-Duos Evi Sachenbacher-Stehle und Claudia Nystad 2010 gegangen. In einem Einzelwettbewerb konnte Deutschland sogar nur einmal triumphieren, was Barbara Petzold 1980 für die DDR gelungen war. Die Vereinigung der internationalen nordischen Ski-Journalisten, „Forum Nordicum", würdigte denn auch die deutschen Sensations-Olympiasiegerinnen durch deren Kür zu den „Rookies of the year 2022".
Der schon traditionell am 25. November im finnischen Ruka 60 Kilometer südlich des Polarkreises startenden Weltcup-Saison 2022/2023, in der laut FIS-Beschluss vom Mai im Zuge der Gleichberechtigung erstmals Männer und Frauen über die exakt gleichen Distanzen an den Start gehen werden (Sprint, 20 Kilometer Skiathlon, 10, 20 und 50 Kilometer Einzelwettbewerb), dürften die deutschen Langläuferinnen daher dank der Peking-Erfolge mit neuem, gestärktem Selbstbewusstsein entgegensehen können.
Dabei ist Katharina Hennig natürlich klar die Anführerin der vom DSV ernannten achtköpfigen und gemeinsam trainierenden Lehrgangsgruppe 1a. Diese ist wiederum in den vierköpfigen Olympiakader mit Hennig, Victoria Carl, Katherine Sauerbrey und Sofie Kehl und den vierköpfigen Perspektivkader mit Pia Fink, Laura Gimmler, Lisa Lohmann und Coletta Rydzek unterteilt. Beim ersten sommerlichen Formcheck auf Rollerski hatte Hennig mit einem Sieg und einem dritten Platz ihre gute körperliche Verfassung schon unter Beweis stellen können. Danach ging es zum Training nach Schweden, um schließlich nach einer weiteren Leistungskontrolle in Oberhof auf dem Dachstein in der Ramsau erstmals auf Schnee zu wechseln.
„Ansprüche haben sich nicht geändert"
Nach dem Karriereende der langjährigen norwegischen Dominatorin Therese Johaug, die 14 WM-Titel, vier olympische Goldmedaillen, drei Weltcup-Gesamt-Siege und 80 Weltcup-Wettbewerbe gewonnen hatte, aber wegen ihrer Doping-Vergangenheit umstritten war, und dem Ausschluss der starken Russinnen wegen des Ukraine-Krieges, wäre es nur zu verständlich, wenn Katharina Hennig erstmals öffentlich Ambitionen auf Siege oder Spitzenplätze anmelden würde. Beispielsweise für die 17. Auflage der prestigeträchtigen Tour de Ski (31. Dezember bis 8. Januar) oder für den Saisonhöhepunkt in Gestalt der Nordischen Ski-WM im slowenischen Planica (21. Februar bis 5. März), wo Damen und Herren um Medaillen in acht Wettbewerben kämpfen werden. Mit ihren bisher besten Platzierungen im Gesamtweltcup, jeweils Rang elf in den Saisons 2020/2021 und 2021/2022, und im Distanzweltcup, Rang sechs in der Saison 2020/2021 und Rang sieben in der Saison 2021/2022, wird sich die ehrgeizige 26-jährige Sportsoldatin aus dem Erzgebirge wohl kaum zufriedengeben wollen.
Mit dem Erfolgsdruck hat sie jedenfalls keine Probleme, wie sie jüngst in einem Interview mit dem Ski-Club Willingen unter Beweis stellen konnte: „Meine Ansprüche haben sich nicht geändert. Die waren vor der Saison hoch und sind es jetzt auch noch. Ich will mindestens noch vier Jahre diesen Sport machen, ich habe also noch viel Zeit, eine Einzelmedaille zu gewinnen. Dafür gebe ich alles. Ansonsten peile ich im Gesamtweltcup einen Top-Ten-Platz an und würde mich freuen, wenn im Laufe der Saison wieder irgendwo ein Podestplatz herausspringt." Das klingt nach einem kalkulierten Understatement, liegt aber voll auf der von Bundestrainer Peter Schlickenrieder vorgegebenen Linie. Der hat den ganz großen Medaillenwurf seines besten Schützlings langfristig für die Olympischen Winterspiele 2026 in Mailand und Cortina d’Ampezo geplant. Denn erst in vier Jahren sei Hennig im besten Langlauf-Alter.
Hennigs Teamkolleginnen dürfte in der im finnischen Lahti Ende März 2023 zu Ende gehenden Weltcup-Saison kaum ein Podiumsplatz zuzutrauen sein, bestenfalls mal ein Reinschnuppern unter die Top Ten, wie es Katherine Sauerbrey mit einem bärenstarken Platz 13 beim hammerharten olympischen Skiathlon in Peking fast gelungen war. Damals konnte sie sogar Katharina Hennig um zwei Positionen hinter sich lassen. Generell ist es um den deutschen Langlauf schlecht bestellt, weil hierzulande einfach das Reservoir an Talenten sehr gering ist und sich noch dazu viele Sportler mit Potenzial lieber für Biathlon entscheiden, das sich wesentlich größerer öffentlicher Wertschätzung erfreut und wo auch deutlich mehr Geld zu verdienen ist. Im Langlauf gibt es für die beiden Weltcup-Gesamtsieger vergleichsweise läppische 31.350 Schweizer Franken (und jeweils eine große Kristallkugel). Ein Sieg bei einem Weltcup-Rennen wird mit 10.000 Schweizer Franken honoriert.