Schattenhaushalte beherrschen nicht nur im Saarland die politische Debatte. Warum gibt es auf einmal so viele, und was sind ihre Risiken? Ökonom Thiess Büttner über die Schuldenbremse, den politischen Trend zu Sondervermögen und warum die europäischen Fiskalregeln uns wichtiger sein sollten.
Herr Büttner, seit 2011 gibt es die Schuldenbremse in Deutschland. Warum macht es eigentlich Sinn, die Verschuldung von Bund und Ländern zu begrenzen?
Der Grund für die Einrichtung der deutschen Schuldenbremse sind die Verpflichtungen auf europäischer Ebene, die sich Deutschland und die anderen Euro-Staaten gegeben haben, als sie die Währungsunion geschaffen haben. Innerhalb der Währungsunion herrscht nämlich die Situation vor, dass sich die Staaten weiterhin individuell verschulden können, aber gleichzeitig eine gemeinsame Währung haben. Damit das nicht für alle Beteiligten zum Problem wird, gibt es die europäischen Fiskalregeln, die hohe Schulden einzelner Euro-Länder verhindern sollen. Die Beschränkungen dienen also dazu, den Euro stabil zu halten. Allerdings hat Deutschland schon zu Beginn der Währungsunion selbst die Maastricht-Kriterien gebrochen und musste sich von Anfang an mit der Frage auseinandersetzen, wie die Verpflichtung zur Begrenzung von Schulden auf Bund und Länder aufgeteilt werden könnte. Dieses Problem wurde dann damit gelöst, dass die Schuldenbremse konstruiert wurde, die die europäischen Regeln in Deutschland nachzubilden versucht.
Das Steuerungsinstrument scheint seit Corona aus den Fugen geraten zu sein: Die Sondervermögen häufen sich. Welche Ausnahmen kennt die Schuldenbremse denn?
Ursprünglich ist die Schuldenbremse des Bundes so konstruiert, dass das Ausweichen in Sondervermögen, also Schattenhaushalte, nicht möglich war, beziehungsweise nichts gebracht hätte, um die Schuldenbremse zu umgehen. Die Bundesregierung konnte damals zwar auch Sondervermögen einrichten, aber die daraus entstehende Neuverschuldung wäre voll auf die Schuldenbremse angerechnet worden.
Diese Praxis galt bis ins Jahr 2021, als die Ampel-Regierung im zweiten Nachtragshaushalt die Verbuchungsregeln der Schuldenbremse auf Bundesebene geändert hat und es damit möglich wurde, Sondervermögen an der Schuldenbremse vorbei zu konzipieren. Die Möglichkeit wurde im selben Jahr aufgrund der Haushaltsnotlage durch die Pandemie stark ausgeschöpft:
Die Regierung holte sich hohe Kreditermächtigungen vom Parlament, die sie im Endeffekt gar nicht voll ausgeschöpft hat. Der nicht aufgewendete Teil wurde dann in den Energie- und Klimafonds integriert. Das hätte normalerweise im Hinblick auf die Schuldenbremse nichts gebracht, wohl aber, weil man die Verbuchungsregeln geändert hat. Bei dem Sondervermögen zur Bundeswehr und dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds greift man ebenfalls auf die neuen Spielregeln zurück. Von daher ist die Wahrnehmung, dass die Schuldenbremse immer weniger greift, richtig. Tatsächlich ist es mit der jetzigen Konstruktion wieder ohne Weiteres möglich, die europäischen Fiskalregeln zu verletzen, deren Einhaltung unsere Politiker ja auch beispielsweise von Italien oder Griechenland immer wieder einfordern.
Im Saarland soll nun ein milliardenschwerer Transformationsfonds mit der Begründung geschaffen werden, dass der Krieg in der Ukraine die Saar-Wirtschaft belastet. Für das vom Strukturwandel stark betroffene Land hört sich das wie ein einfacher Ausweg an, um neues Geld zu legitimieren.
Das ist auch mein Eindruck. Die Schuldenbremse in den Bundesländern funktioniert etwas anders als auf Bundesebene: Bei der Konzipierung der Schuldenbremse haben die Länder darauf gedrängt, dass ihre Sondervermögen aus dem Regelwerk herausgehalten werden. Deswegen muss das Saarland auch keine Verbuchungsregeln für den neuen Fonds ändern. Relevant ist aber, dass das Saarland nun eine neue Notlage im Hinblick auf die Energiekrise einführt. Hier wird eine Argumentation zur Begründung einer Notlage geschaffen, die besagt, dass diese Schwäche des Landes von äußeren Faktoren wie der Klima- und Energiekrise herrührt, auf die die Regierung keinen Einfluss hat. Wenn die Regierung damit durchkommt, ist die Schuldenbremse obsolet. Denn dann können auf ähnlichem Weg immer neue Notlagen vorgebracht werden, die Verschuldung legitimieren, zum Beispiel der Klimanotstand.
„Kommt die Regierung damit durch, ist die Schuldenbremse obsolet"
Also ein Präzedenzfall für andere Bundesländer?
Genau. Dazu kommt, dass die Schuldenbremse in Deutschland nicht durch ein unabhängiges Gremium überwacht wird. Die Finanzminister von Bund und Ländern prüfen die Einhaltung der Regeln selbst. Also stellt sich die Frage, welches Eigeninteresse die jeweiligen Minister haben. Ich fürchte, dass es wenig kritische Stimmen zum Transformationsfonds geben wird, da die anderen Länder sich die Option auf eigene Sondervermögen wie an der Saar offenhalten wollen. Einzig bei dem Thema Konsolidierungshilfen könnte es Widerstand geben. Denn das Saarland bekommt immer noch finanzielle Hilfen vom Bund, um die eigene Verschuldung zu reduzieren, und wird deshalb bei der eigenen Haushaltsführung überwacht. Das geschieht aber erneut nur durch das Gremium aus den anderen Finanzministern. Dass diese Finanzhilfen wegen der Einrichtung des Fonds gestrichen werden, ist also zwar möglich, aus politischen Gründen aber nicht zwingend.
Macht dies Schattenhaushalte Ihrer Meinung nach zu einer schlechten Lösung?
Eigentlich ist in der Finanzordnung genau geregelt, dass es gerade keine Schattenhaushalte geben soll. Die Regeln sehen vor, dass das Budget, der Haushalt der Länder jährlich oder zweijährlich vorgelegt werden muss, und normalerweise muss das Parlament darüber entscheiden können. Wenn ein Sondervermögen über mehrere Jahre gebildet wird, dann werden die Ausgaben der regelmäßigen Kontrolle des Parlaments entzogen und priorisiert. So geben die Parlamentarier je nach Laufzeit nicht nur ihre Kompetenzen ab, sondern möglichweise auch die ihrer Nachfolger.
Stellt sich nicht auch für die Bürger, die die Schulden tilgen müssen, die Frage nach der Generationengerechtigkeit?
Das ist ebenfalls problematisch. Obwohl das Saarland nun einen Weg um die Schuldenbremse herum gehen will, bleiben andere finanzpolitische Regelungen erhalten. Die Notfallverschuldung muss entsprechend einem Tilgungsplan zurückgezahlt werden. Gleiches gilt für Sondervermögen aller Art. Tilgungen können natürlich über einen langen Zeitraum gestreckt oder die Tilgungsperiode erst Jahre später begonnen werden, aber das ändert nichts daran, dass diese Kredite vollständig getilgt werden müssen. Kurz gesagt: Jeder Euro, der heute ausgegeben wird, muss später wieder aus dem Budget aufgebracht werden. Die Zinslasten kommen oben drauf. In der aktuellen Situation wird verschiedentlich die Inflation in den Blick genommen und darauf verwiesen, dass die Belastung gar nicht so hoch sein wird, aufgrund der hohen Inflation. Allerdings meine ich, dass das keine gute Nachricht ist, sondern im Gegenteil eine schlechte, denn die Inflation ist von allen Arten der Staatsfinanzierung eigentlich die ungerechteste. Es wird auch manchmal gesagt, wenn heute Maßnahmen durch die Neuverschuldung finanziert werden, die in der Zukunft das wirtschaftliche Potenzial verbessern sollen, dann könnte man hoffen, dass neben der Tilgungsbelastung auch irgendwelche monetären Vorteile stehen. Nur die Erfahrung zeigt, dass die Argumentation in der Regel nicht trägt. Typischerweise ist es leider so, dass wirtschaftliches Wachstum nicht einfach durch Staatsausgaben generiert werden kann. Das Einzige, was wirklich sicher ist, sind die Schulden.
Sondervermögen vermitteln das Gefühl, dass gehandelt wird
Schattenhaushalte wirken bei aller Kritik zurzeit alternativlos – oder gibt es noch andere Instrumente des Staates, mit denen er den aktuellen Krisen begegnen könnte?
Zunächst: Es gibt einige Sondervermögen in der Geschichte der Bundesrepublik, die durchaus sinnvoll waren: die Hilfen über den Marshallplan, die über einen langen Zeitraum als Fördermittel ausgegeben wurden, oder der Lastenausgleichsfonds, der die erheblichen Verwerfungen durch die Kriegsfolgelasten ausgleichen sollte. Aber seit der Corona-Krise, auch jetzt im Hinblick auf die Energiekrise, gibt es eigentlich keinen sinnvollen Grund für ein Sondervermögen, sieht man von der Umgehung der Schuldenbremse ab.
Gleiches gilt für den Fonds zur Ausrüstung der Bundeswehr. Das sind alles Dinge, die man eigentlich im Parlament durch das Beschließen zusätzlicher Ausgaben erledigen könnte. So bliebe auch das Parlament in der Sache weiter kompetent. Es sind rein politische Gründe, die für die aktuellen Sondervermögen sprechen, und keine ökonomischen: Es werden lieber schnell Schulden aufgenommen als Probleme tiefer durchdrungen und gelöst. Die derzeitige Praxis, neue Sondervermögen aufzulegen, erzeugt aber das Gefühl, dass gehandelt wird.
Müssten wir nicht eigentlich darüber sprechen, ob wir an der Schuldenbremse festhalten wollen?
Ja, die Schuldenbremse kommt aktuell nicht mehr ihrer eigentlichen Aufgabe nach, die europäischen Fiskalregeln einzuhalten. Aber was wäre, wenn man sie oder die EU-Vereinbarungen abschafft? Was passiert dann mit dem Euro? Die große Gefahr ist, dass wir dann in eine finale Eurokrise kommen, an deren Ende unbeherrschbare Konsequenzen und das Auseinanderbrechen der Währungsunion als Ganzes stehen. Ich wäre also dafür, noch mal über die Schuldenbremse nachzudenken, aber eigentlich nur, um sie so zu reformieren, dass sie wieder ihrem eigentlichen Zweck dient.