Bislang taten sich die Gesundheitsexperten schwer damit, eine einheitliche Symptomatik und die auslösenden Ursachen für die Krankheit Long Covid zu definieren. Doch nun konnten Biomarker entdeckt werden, die konkrete gesundheitliche Spät- oder Langzeitfolgen wahrscheinlich machen.
Ärzte und Betroffene fordern hierzulande nun schon seit eineinhalb Jahren die Einrichtung von spezialisierten Zentren zur Behandlung von Patienten, deren Lebensqualität und Arbeitsfähigkeit durch die gesundheitlichen Spät- oder Langzeitfolgen einer Corona-Erkrankung mehr oder weniger stark beeinträchtigt sind. Die deutschen Krankenkassen konnten dies bislang verhindern, weil sie eine zusätzliche Kostenlawine durch Long Covid befürchten. Egal, ob es sich dabei nun um länger als vier Wochen nach Krankheitsbeginn anhaltende Symptome namens „Long Covid" oder um erst später als zwölf Wochen nach Krankheitsbeginn auftretende Symptome namens „Post Covid" handelt. Als Begründung führten die Krankenkassen an, dass sich die medizinische und epidemiologische Dimension des Phänomens Long Covid noch nicht abschätzen lasse und es daher verfrüht sei, spezifische Versorgungsstrukturen für Betroffene aufzubauen.
Bislang schienen beispielsweise die bei Betroffenen beobachteten Symptome so vielseitig, dass es sich aus Sicht der Krankenkassen auch um etwas anderes als eine Folgeerscheinung von Covid-19 handeln konnte. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung zählt ganz aktuell folgende Symptome zu den am häufigsten auftretenden Long-Covid-Beschwerden: „anhaltende, massive Erschöpfungszustände, Atembeschwerden, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Geruchs-, Geschmacks- und Schlafstörungen, Muskelschwäche und -schmerzen sowie depressive Verstimmungen".
In Deutschland hinkt man in der Long-Covid-Forschung weiter hinterher. Laut dem Bundesministerium für Forschung und Bildung sind zwar seit Mai 2021 zehn Forschungsverbünde mit dem Thema befasst, wofür bislang ziemlich läppische 6,5 Millionen Euro Fördergelder zur Verfügung gestellt wurden. Aber auf nennenswerte Erkenntnisse aus Deutschland wartet man bislang vergeblich. Das Ministerium konnte immerhin auf eine projektierte Pilotstudie zum Wirkstoff „BC 007" hinweisen, dessen Einsatzmöglichkeiten zur Bekämpfung von Long Covid an 30 betroffenen Patienten noch diesen Herbst getestet werden soll.
43 Prozent der Infizierten betroffen
Wie drängend das Gesundheitsproblem Long Covid inzwischen geworden ist, zeigt eine im April 2022 in „The Journal of Infectious Diseases" veröffentlichten, als Meta-Analyse angelegten Studie: 43 Prozent der Corona-Infizierten müssen mit gesundheitlichen Langzeitfolgen rechnen. In Fällen mit stationärer Behandlung lag der Wert sogar bei 54 Prozent, bei ambulanter Behandlung bei 34 Prozent. Bei einer von der WHO geschätzten Zahl von einer halben Milliarde nachweislich mit dem Corona-Virus Infizierter könnten demnach mehr als 200 Millionen Menschen von Long Covid betroffen sein.
Daher kann die Relevanz dreier neuer Studien zu Biomarkern für Long Covid nicht hoch genug eingeschätzt werden. Den Anfang machte eine im Fachmagazin „Science" im August veröffentlichte Studie der US-amerikanischen Yale University unter Leitung der Immun- und Molekularbiologin Prof. Akiko Iwasaki. Die Forscher konnten auffällige Werte im Blut und den Immunzellen von Long-Covid-Patienten feststellen. Was Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sogleich via Twitter begeistert kommentiert hatte: „Endlich kommt Licht in den Long-Covid-Tunnel."
Der Großteil der 99 Probanden hatte sich schon 2020 infiziert, dabei aber nur einen leichten bis mittleren Krankheitsverlauf entwickelt, weshalb eine Krankenhauseinweisung nicht nötig gewesen war. Alle Betroffenen berichteten aber auch ein Jahr später noch über Symptome wie Verwirrtheit, ein Gefühl von anhaltender Müdigkeit (Fatigue) oder einen „Hirnnebel" (brain fog), was seinen Niederschlag in Gedächtnisstörungen und Konzentrationsschwäche fand.
Im Blut der Long-Covid-Betroffenen konnte ein auffällig niedriger Cortisol-Spiegel nachgewiesen werden. Cortisol ist ein körpereigenes Hormon, das in der Nebennierenrinde gebildet und vermehrt bei Stress ausgeschüttet wird, das aber auch bei der Bereitstellung von Energie aus dem körpereigenen Energiespeicher benötigt wird. Der niedrige Cortisol-Spiegel könnte die Ausbildung des Symptoms Fatigue erklären und für eine Nebennieren-Insuffizienz sprechen. Prof. Iwasaki schlug daher vor, einen niedrigen Cortisol-Spiegel künftig als einen der zentralen Biomarker für eine mögliche Folgeerkrankung an Long Covid zu definieren.
Doch die Forscher konnten noch weitere Auffälligkeiten im Blut der Long-Covid-Probanden ermitteln, vor allem eine Erhöhung der T-Zellen, die für die Immunabwehr extrem wichtig sind, was darauf hindeuten könnte, dass diese Zellen durch dauerhaft vorhandene Antigene permanent stimuliert werden. Außerdem konnten die Forscher eine signifikante Erhöhung von Antikörpern registrieren, die normalerweise die Ausbildung des Epstein-Barr-Virus zu bekämpfen pflegen. Letzteres gehört zur Familie der Herpesviren und ist unter anderem Auslöser des Pfeifferschen Drüsenfiebers. Die erhöhten Antikörper könnten ein Anzeichen dafür sein, dass im Körper schlummernde Herpesviren durch die Corona-Infektion reaktiviert wurden. Die Forscher wiesen ausdrücklich darauf hin, dass ihre Befunde durch weitere Studien untermauert werden müssten, weil die Zahl der Probanden doch verhältnismäßig klein gewesen sei.
Gerade mal einen Monat später, Ende September, konnten Forscher vom University College London (UCL) unter Leitung von Dr. Gaby Captur und Dr. Wendy Heywood mit einer im Fachmagazin „eBioMedicine" publizierten Studie neue mögliche Biomarker für eine spätere Long-Covid-Ausbildung präsentieren. Für ihre Untersuchung überprüften die Wissenschaftler die Veränderung von vorab 91 festgelegten Proteinen im Blutplasma der gesamten Versuchsgruppe, die aus Pflegekräften bestand: „bei nicht infiziertem Gesundheitspersonal zu Studienbeginn und bei infiziertem Gesundheitspersonal seriell von einer Woche vor bis zu sechs Wochen nach ihrer ersten bestätigten SARS-CoV-2-Infektion".
Dabei konnte festgestellt werden: „Selbst ein mildes oder asymptomatisches Covid-19 stört das Profil unserer Proteine im Blutplasma", so Dr. Captur. Vor allem zwölf Biomoleküle waren bei den Infizierten schon gleich zu Beginn der Infektion stark angestiegen, wobei der Grad der Anomalie mit der Schwere der Erkrankung korrelierte. Insgesamt konnten die Forscher 20 Proteine ermitteln, aus deren Veränderungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine spätere Ausbildung von Long Covid voraussagbar sein könnte. „Wir haben ein proteomisches Profil identifiziert, das mit hoher Zuverlässigkeit anhaltende Symptome vorhersagt", so Dr. Captur.
Wobei die meisten dieser Proteine mit gerinnungshemmenden und entzündungshemmenden Prozessen in Verbindung stehen, beispielsweise ein Vorläuferprotein von Beta-Amyloid (APP), das im Blutserum als Gerinnungshemmer wirkt, oder das HSCB, ein für den Eisen- und Energiestoffwechsel der Blutzellen wichtiges Protein. „Es ist plausibel", so die Forscher, „dass HSCB ins Blut freigesetzt wird, wenn Blutzellen und ihre Mitochondrien durch Covid zerstört werden."
Früherkennung des Long-Covid-Risikos
Zur Kontrolle ihrer Ergebnisse fütterten die Forscher einen auf das Erkennen der Biomarker trainierten Lernalgorithmus mit den Proteinprofilen aller Teilnehmer. Tatsächlich konnte das System alle elf später tatsächlich an Long Covid erkrankten Gesundheitsmitarbeiter allein schon anhand der Blutproben vom Beginn der akuten Infektion identifizieren. Laut den Forschern könnte ihre Bluttestmethode schnell und kostengünstig umgesetzt werden, weil das für die Proteinanalyse genutzte Verfahren bereits in medizinischen Instituten oder Laboren gebräuchlich sei. Eine Früherkennung des Long-Covid-Risikos hätte laut den Wissenschaftlern den enormen Vorteil, den Betroffenen schon während der akuten Infektion mit antiviralen Mitteln oder anderen therapeutischen Wirkstoffen vorbeugend gegen Corona-Spätfolge-Erkrankungen helfen zu können.
Hochinteressant dürfte auch eine am 10. Oktober im Fachjournal „Molecular Medicine" veröffentlichte Studie von Forschern der Western University im kanadischen London (Ontario) unter dem Titel „Erhöhte Blutbiomarker für vaskuläre Transformation bei Long-Covid" sein. Die Forscher hatten 14 Blutbiomarker für die Gefäßtransformation entdeckt, die bei ambulanten Patienten mit langer Covid-19-Erkrankung signifikant erhöht waren im Vergleich zu akut erkrankten stationären Covid-19-Patienten und gesunden Kontrollpersonen.
Wobei vor allem die Veränderung zweier Protein-Bestandteile des Blutplasmas namens ANG-1 oder Angiopoietin 1 und P-SEL oder P-Selektin laut den Forschern eine Prognosegenauigkeit von 96 Prozent für die Ausbildung von Long Covid erlauben soll. Sie wären daher perfekt als Biomarker für Covid-19 und als frühes Ziel für therapeutische Maßnahmen geeignet.