Die Missbrauchs-Enthüllungen des früheren Weltklasse-Wasserspringers Jan Hempel haben im DSV zu personellen Konsequenzen geführt. Die fristlose Kündigung des Chef-Bundestrainers Lutz Buschkow kann aber erst der Anfang einer umfangreichen Aufarbeitung sein.
Malerisch erhebt sich auf vielen Fotos im Hintergrund das einmalige Panorama von Barcelona. Vorne ragt am Becken für die Wasserspringer-Wettbewerbe der Olympischen Spiele 1992 der Sprungturm steil in die Höhe. Auch 30 Jahre später immer noch atemberaubende Impressionen.
Die Luft zum Atmen schnüren einem drei Jahrzehnte darauf aber beim Anblick jener Bilder die Enthüllungen des ehemaligen Weltklasse-Wasserspringers Jan Hempel über die verbrecherischen Geschehnisse am Fuße eben dieses Turms ab: Auf der Toilette direkt an der Sprunganlage musste Hempel 1992 wie in vielen Jahren zuvor und auch noch danach wieder einen sexuellen Missbrauch durch seinen Trainer Werner Langer über sich ergehen lassen – tatsächlich unmittelbar vor dem bis dato wichtigsten Wettkampf in der Karriere des damals 20-Jährigen.
„Er hat", schilderte Hempel im vergangenen Sommer in der ARD-Dokumentation „Missbraucht – sexualisierte Gewalt im deutschen Schwimmsport" sein Martyrium durch Langers ebenso gewissenlose wie pathologische Vergewaltigungen, „eigentlich keine Gelegenheit ausgelassen, um seinen Wünschen und Bedürfnissen freien Lauf zu lassen." Genauer gesagt von 1982 bis 1996, selbst wenige Augenblicke vor einem olympischen Wettbewerb noch.
Langer kann zu den Vorwürfen nicht mehr befragt werden: Der ehemalige Stasi-Spitzel nahm sich 2001 das Leben. Ob der Mann seine mutmaßliche Schuld nicht mehr ertragen konnte oder mochte? Unklar.
Hempel begründete seinen Gang an die Öffentlichkeit zwar einerseits als Absicherung vor dem Verlust seiner Erinnerungen durch eine ausgebrochene Alzheimer-Erkrankung, andererseits jedoch vor allem mit einem Gefühl von persönlicher Verantwortung für nachfolgende Generationen: „Ich glaube, man ist es anderen auch für die Zukunft schuldig, dass man darüber redet. Was mir widerfahren ist, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Aber es gibt ja auch noch viele, die es in der heutigen Zeit betrifft und die heute Sport treiben wollen."
Keine Gelegenheit ausgelassen
In der Tat dürfte das Grauen hinter den Kabinentüren in den deutschen Turn- und Schwimmhallen unermesslich groß und dadurch hochgradig erschütternd sein. Erst vor Kurzem untersuchte eine Studie sexuellen Missbrauch so intensiv und umfassend wie keine wissenschaftliche Arbeit zuvor. Eindeutig treten dabei systemische Missstände zutage, die Autoren kritisieren als eine maßgebliche Schlussfolgerung die „romantisierende Erzählung vom gesunden, fairen und schönen Sport".
Für einen Verfälscher der Wirklichkeit besonders im „Fall Hempel" hält der Deutsche Schwimm-Verband (DSV) inzwischen seinen bisherigen Wassersprung-Bundestrainer und langjährigen Leistungssportdirektor Lutz Buschkow. Der Berliner erhielt im Oktober zwei Monate nach Ausstrahlung des ARD-Films und seiner vorübergehenden Suspendierung die fristlose Kündigung.
Hempel wirft dem Coach und dem Verband gleichermaßen vor, 1997 seine an die damalige und inzwischen auch verstorbene Bundestrainerin Ursula Klinger Informationen über Langers schlimmen Übergriffe nicht ernsthaft verfolgt zu haben und Langers frühere Spitzeldienste als willkommenen Verband für eine Trennung genutzt zu haben. Vor allem aber hätte besonders Buschkow im Sinne seines Arbeitgebers eine sachliche Aufarbeitung der unaussprechlichen Geschehnisse blockiert. „Alle", meinte Hempel in der ARD vielsagend, „haben geschwiegen – bis heute."
Buschkow bestreitet Hempels Anschuldigungen. Der 65-Jährige will seinerzeit von Klinger keine Informationen über die Inhalte ihres Gesprächs mit dem zweimaligen Olympia-Medaillengewinner erhalten haben. Seinen weiteren Angaben zufolge ist Buschkow lediglich über eine Veränderung bei der Besetzung des Trainerpostens für Hempel „aufgrund von persönlichen Differenzen" informiert worden: „Mehr wurde uns nicht gesagt."
Beim DSV sollte die Kündigung für Buschkow, der eine Klage gegen seine Kaltstellung angekündigt hat, besonders wieder einmal Handlungsfähigkeit in der delikaten Frage demonstrieren. Denn auch der Verband war durch Hempels Enthüllungen weiter unter Druck geraten, nachdem die Missbrauchs-Thematik bereits in den vergangenen Jahren bei anderen Fällen eher halbherzig angegangen worden war. Hempel aber will die damalige Verbandsspitze keinesfalls aus der Verantwortung entlassen. „Mir ist", erinnert sich der ehemalige Topathlet an die Einleitung von Vertuschungsmethoden vor 25 Jahren, „vom DSV nahegelegt worden, wenn Du das an die große Glocke hängst, ist unsere Sportart in Gefahr, und dann kannst Du Deine Sportart nicht mehr weitermachen. Ich weiß natürlich nicht, was den Trainern damals offiziell rübergebracht wurde. Ob der DSV den Trainern gesagt hat, Jan möchte nicht, dass das an die große Glocke gehängt wird, kann ich nicht sagen. Ich habe es nicht so gesagt."
Zumindest vor Buschkows Rauswurf hatte Hempel auch große Zweifel am Aufarbeitungswillen der neuen DSV-Führung: „Bisher war es ja so, dass es immer wieder unter den Tisch gekehrt wurde. Wenn solche Dinge an die Öffentlichkeit gekommen sind, wurden sie schnell totgeschwiegen."
Hempel wünscht sich nur noch wenig mehr als eine vollkommen veränderte Haltung des Verbandes zum Umgang mit dem gesamten Themenkomplex. „Ich kann nicht abschätzen, wie groß die Welle sein wird. Ich hoffe nur, dass ich einen Stein ins Rollen gebracht habe", meinte der Dresdner.
Hempel wohl kein Einzelfall
Hempels Schicksal erscheint auch in keinster Weise als Einzelfall. Vielmehr passen seine Aussagen auf erschreckende Weise gut zu früheren Vorwürfen und Belegen von sexualisiertem Missbrauch im deutschen Schwimmen. Als besonders exemplarisch für die offenkundige Schweigegelübde-Kultur im DSV-Zuständigkeitsbereich und damit verbundene Vertuschungen mutet der Fall des ehemaligen Langstrecken-Bundestrainers Stefan Lurz an. Zu Jahresbeginn verurteilte das Amtsgericht Würzburg den Bruder des ehemaligen Weltmeisters Thomas Lurz wegen Übergriffen zu einer Haftstrafe auf Bewährung und einer Geldbuße. Die ersten Vorwürfe gegen den Coach wegen Missbrauchs aber waren schon 2010 öffentlich geworden, doch in seinem Umfeld machten mehrere Personen gegenüber den Ermittlern vorsätzlich falsche Aussagen zur Entlastung von Lurz.
Dass der ehemalige Bundestrainer in Würzburg weiterhin offiziell als „kaufmännischer Angestellter" auf dem Gelände des Schwimm-Vereins arbeitet, in dem Ex-Champion Thomas Lurz mittlerweile den Präsidentenposten innehat, wollte der DSV mit Hinweis auf Formalien abtun: „Wir haben in Würzburg", meint DSV-Chef Marco Troll, „kein Hausrecht." Inzwischen hat auch der DSV offenbar Handlungsbedarf in dieser Frage erkannt und will Würzburg dem Vernehmen nach den finanziell durchaus attraktiven Status als Bundesleistungsstützpunkt Langstreckenschwimmen aberkennen.
Im Fall Lurz hatte der DSV im vergangenen Jahr schon einmal einen hohen Funktionär wenigstens vordergründig zum Bauernopfer gemacht. Denn nachdem die Falschaussagen zugunsten des ehemaligen Coaches aufgeflogen waren, setzte der DSV kurzerhand seinen damaligen Leistungssportdirektor Thomas Kurschilgen wegen angeblicher Untätigkeit vor die Tür – wie heute Buschkow. Ebenfalls wie Buschkow weist Kurschilgen die Vorwürfe zurück und klagt derzeit gegen den Verband.
Nachrangig wirken angesichts der Untiefen des Missbrauchs beim DSV rund neun Monate vor den Weltmeisterschaften im japanischen Fukuoka die sportlichen Fragen nach einem Ersatz für Buschkow. Beim Heim-Weltcup am vorletzten Oktober-Wochenende in Berlin diskutierten die Athleten und die Verbandsführung über die weitere Vorgehensweise. Bis zur finalen Klärung der Personalie wollen sich alle betroffenen Heimtrainer nach Angaben von Stützpunktcoach Christoph Bohm „gemeinsam den Aufgaben stellen".