Ein 19-Jähriger aus Dänemark eroberte in nur einer Saison und mit „Fünf auf einen Streich“ die Top Ten: Beim großen Griff nach dem Masters-Titel in Paris-Bercy trat Holger Rune in die Fußstapfen von Boris Becker.
Also auch noch das glamouröse Tausender-Hallenturnier zum Saisonende in Paris-Bercy. Die Sehnsuchts-Trophäe für jeden Spitzenspieler, der etwas auf sich hält. Als jüngster Turniersieger seit dem damals achtzehn Jahre alten Boris Becker. Partie für Partie, Runde für Runde warf ein erst 19-Jähriger seine Gegner aus dem Turnier. Ein ums andere Mal in der Saison 2022. Kommend aus dem Hinterland, jenseits der verdienst- und ruhmesträchtigen Top Hundert im Tennissport. Aber talentbehaftet und seit jeher gut trainiert von Lars Christensen. Seit sechs Jahren zusätzlich von Serena Williams Ex-Trainer, Star-Coach Patrick Mouratoglou beziehungsweise dessen Akademie.
2019 zur Nummer eins der Junioren
Vor der Pandemie legte der Däne gut vor für die bislang beste Saison seines Lebens: 2019 schoss er zur Nummer eins der Junioren hoch, war einst U14-Europameister. Selbstbewusst strebt Holger Rune nun auf die Spitzenposition im Kosmos der ATP-Tour, der stärksten Männer unter den Profis zu. Wovon sicher noch lange zu berichten sein wird, wenn es um den Jungen aus dem Land der wackeren Wikinger geht, ist seine historische Vernichtung von fünf Top-Ten-Spielern auf einen Streich, in nur einem Turnier. Derartige Unverfrorenheit gegenüber den Etablierten des Player-Biz gab es seit 1973 nicht mehr zu berichten.
In Paris-Bercy schlug Holger Rune sie alle: den kräftigen Schweizer Stan Wawrinka, einst Nummer drei der Welt. Den Wimbledon-Halbfinalisten von 2021, Hubert Hurkacz. Den „Frieden“ proklamierenden Russen Andrej Rublev, zum Jahresende Siebter der Welt. Den schier unschlagbar erscheinenden Ranglistenersten, seinen Altersgenossen Carlos Alcaraz, der aufgab. Und den sechstplazierten Félix Auger-Aliassime. Beim 22-jährigen Kanadier, der zugleich Gegenwarts- und Zukunftsstar ist, revanchierte sich Rune für seine Niederlage im Finale von Basel.
„Es war das emotionalste Match meines Lebens. Mein Herz rutschte fast in mein Gehirn. Es war verrückt“, sagte er nach seinem bislang größten Triumph, dem Finalsieg über die Ex-Nummer eins der Welt, Novak Djokovic, in Paris. Und immer wieder: „Ich bin superstolz.“ In die Top Zehn der Welt vorgedrungen zu sein. Als erster männlicher Däne jemals. Den „Djoker“ bezwungen zu haben, in einem extrem stressigen Match: All das ließ den Youngster leuchten und doch zugeben, dass er sich auf ein wenig Ruhe freue. Diesmal dominierte bei dem häufig positiv gestimmt wirkenden Dänen nicht die Vokabel „happy“ in seinen Statements, sondern „superproud“. Als nicht „happy“ bekannte sich zum gleichen Anlass ein anderer: „Ich bin nicht glücklich, dass du mich geschlagen hast, aber ich freue mich für dich, weil ich deine Persönlichkeit mag“, kommentierte Novak Djokovic nach dem Finale.
Es war viel los in der Saison 2022 für einen, der in der Welt der Jungen nun daran ging, die Etablierten aufzumischen. Vielleicht der Unerschrockenste der drei 19- und 20-Jährigen, die so oder so gerade durchziehen: Rune, Carlos Alcaraz sowie gemütlicher der Federer nachfolgende Schweizer Dominic Stricker. Ein „Tennisspieler und auf meinem Weg bis (hoffentlich) ganz weit nach oben!“, wie Letzterer auf seiner Website gut gelaunt über sich schreibt. Immerhin unterlag der 20-Jährige bei den Swiss Indoors in Basel erst Careno Busta im Achtelfinale, gewann 2020 die Junioren French Open und dürfte bald in die Top 100 aufschließen.
Langer Weg, aber stets „hungrig“
Da wo Stricker jetzt steht, verharrte ungern vor einem Jahr Rune. Ein 19-Jähriger, der 2021 noch die Ungerechtigkeit eines eingefrorenen ATP-Rankings infolge der Pandemie beklagte. Der im Januar dennoch in die Top Hundert vorstieß. Der bereits 2019 die Junioren French Open gewann sowie in Wimbledon und bei den US Open im Endspiel stand, bevor er das Jugendevent der ATP Finals als Champion verließ und so den Junioren-Weltranglistenplatz eins erklomm. Ein Teenager, der sein Privatleben geheim hält, sofern er als Kind und Jugendlicher neben Tennis und Schule überhaupt nennenswert Freizeit hatte. Der fast schon unheimlich furchtlos und dabei (meist) freundlich ist.
Ganz entspannt saß Rune im Frühling beim 250er-Turnier in München vor den Journalisten und plauderte davon, dass er noch einen langen Weg zu gehen habe, nichtsdestotrotz „hungrig“ sei. Gerade hatte der Wildcard-Starter, kurz vor seinem 19. Geburtstag, den damaligen Top-Drei-Spieler und ehemaligen Turniersieger Alexander Zverev bei dessen Auftaktmatch bezwungen. Natürlich fände er es gut, wenn sich die Aufmerksamkeit auf ihn richte, antwortete er auf Nachfrage achselzuckend. Über Selbstverständliches redet der Kopenhagener nicht so gern. Lieber gleich über das, was ihn definiert und in seiner Selbstgewissheit ein wenig an den Zverev von einst erinnert. Rune war in diesem Jahr noch 90 Plätze von der Spitze entfernt, als er sagte: „Mein Ziel ist es, die Nummer eins zu werden. Das ist auch immer so gewesen, daraus mache ich kein Geheimnis. Ich glaube an mich und bin in der Lage, die großen Spieler zu schlagen – nicht nur einmal, sondern auch bei Grand-Slam-Turnieren, wo alle ihr Bestes geben.“
Kopfüber rein ins Adrenalin. So handhaben das auch junge Kopenhagener, die sich von der Brücke, die zur Streetfood-Szene zwischen Christianshavn und Nyhavn führt, mit einem Kopfsprung ins kalte Wasser stürzen. Nicht weit von ihnen sitzt die Kleine Meerjungfrau, blickt zu den Wagemutigen und bringt ihnen Glück. So auch Holger, dem Furchtlosen, bei seinem Sprung in die Titel-Wettkämpfe, die lange Zeit vornehmlich von den Big Four, Federer, Nadal, Djokovic und Andy Murray dominiert worden waren. Kaum beginnen diese, das Feld zu räumen, haben es die mittlerweile Mittzwanziger wie Zverev, Rublev, Stefanos Tsitsipas und Daniil Medvedev mit unerschrockenen Jungen wie Rune als Rivalen zu tun. Der an einem einzigen Tag im April 2022 erst im Finale des Challengers in Sanremo siegte, sich dann ins Auto stürzte, eine Landesgrenze passierte und nach Monte Carlo fuhr. Um dort die Runde eins der Qualifikation zu meistern.
Zwei Finalteilnahmen im Oktober
So etwas wie eine frische Meeresbrise wehte ins Finale von München, als Rune bald darauf, im Frühjahr, sein erstes ATP-Turnier gewann. Ein extra starker Wind, versetzt mit ein paar Tropfen Willenskraft-Elixier, die aus fast tausend Kilometer Entfernung aus Kopenhagen zur Iphitos Tennisanlage am Aumeister spritzten? Auf pure Willenskraft setzt Rune bekanntermaßen bei seinen furchtlosen Kämpfen gegen jedermann. Ergänzend zur Körperkraft des Athleten, der sicherlich auch schon die vier Skipisten, die seit 2019 auf dem Dach einer Müllverbrennungsanlage in Kopenhagen angelegt sind, herunterbretterte.
Im näher bei Holgers Heimat gelegenen Stockholm platzierte der 19-Jährige seinen nächsten Streich und holte seinen zweiten Titel, indem er Tsitsipas abservierte. Gleich zwei Finalteilnahmen im Oktober, in Basel und Sofia, flankierten Runes Turniersiege. Bis er schließlich seinen größten Triumph, in Paris-Bercy, Anfang November landete.
Der Tausend-Punkte-Titel schubste den selbstgewissen Kämpfer bis an die Schwelle der ATP Finals der besten acht Spieler der Saison, als ersten Nachrücker. Dafür räumte Holger Rune seinen Favoritenplatz bei den Next Gen Finals, sparte strategisch Kraft für einen eventuellen Einsatz.
Nächste Generation? Die Dimensionen verschieben sich. Der Däne ist in dieser Saison schon eine Ebene weiter gestürmt. Auf den Spuren von Roger Federer, seinem Poster-Idol.
Casper Ruud, Welt-Nummer vier aus Norwegen, der im skandinavischen Viertelfinal-Duell bei den French Open gegen Holger Rune antrat, sagte über den Jüngeren: „Er ist offensichtlich jemand, der mit viel Emotionen spielt.“ Die beiden hatten in diesem Jahr ihre ganz eigene Story miteinander erlebt. Die beide jeweils anders nacherzählen. Mittlerweile lobt der 23-Jährige den 19-Jährigen und freut sich, dass ein weiterer junger Skandinavier so konzentriert gewinnen kann. Davon weiß der erfolgreiche Norweger Ruud aus eigener Erfahrung zu berichten. Nicht ängstlich werden auf der Erfolgsspur, lautet das Motto der jungen Nachrücker. So, wie es Holger „Furchtlos“ handhabt.