Hinter Argentiniens Sieg bei der Fußball-WM steckt ein Muster für Erfolg
Aus England kommt die alte Weisheit, Fußball sei die schönste Nebensache der Welt. Das stimmt heute aus vielerlei Gründen nicht mehr. Der Sport mit den 22 Rasen-Akteuren ist ein Milliardengeschäft. Die Vergabe der WM 2022 an den Wüstenstaat Katar durch die Fifa beweist: Neue Märkte (Arabien), finanzkräftige Sponsoren (die Scheichs) sind wichtige Taktgeber eines monumentalen Spektakels. Kein Wunder, dass TV-Übertragungsrechte, Spielergehälter und Ablösegelder auf schwindelerregend hohe Summen steigen.
Doch dies ist nur die kommerzielle Seite. Für Argentinien, das am vergangenen Sonntag zum dritten Mal Fußball-Weltmeister wurde, ist der Gewinn des Cups ein kollektiver Glücksrausch, der zumindest eine kurze Zeit lang den tristen Alltag verdeckt. Das Land ist mit Dauer-Wirtschaftskrise, horrend hoher Inflationsrate und grassierender Armut gebeutelt.
Die Zauberpässe und -tore von Superstar Lionel Messi rissen die Nation aus dem Tal der Depression und katapultierten sie in schier grenzenlose Euphorie. Für seine fußballverrückten Landsleute ist der 35-Jährige bereits heute ein Heiliger, auf einer Stufe mit Diego Maradona. Messis Triumph im Spätherbst seiner Karriere – er hatte alle Titel gewonnen bis auf die WM – wird zur großen Projektionsfläche aller Sehnsüchte und Träume. Der Sieg von Doha verleiht zumindest der Illusion Nahrung, dass am Ende alles gut wird.
Die Begegnung Argentinien – Frankreich geht als neues Jahrhundert-Spiel in die Geschichte ein. Bislang galt dieser Glorienschein für das nervenaufreibende Halbfinale Deutschland – Italien während der WM 1970 in Mexiko. Die Deutschen verloren damals mit 3:4 in der Verlängerung.
Doch das Herzinfarkt-Match in Katar hatte noch mehr Dramatik. Die Argentinier schienen bis zur 80. Minute ihren 2:0-Erfolg sicher in der Tasche zu haben. Dann drehte sich die Begegnung. Die Franzosen glichen innerhalb von zwei Minuten aus. In der Verlängerung waren Les Bleus dem Sieg zunächst näher, bis das Elfmeterschießen Argentinien die WM-Trophäe bescherte. Eine epische Feldschlacht. Ein Wechselbad der Gefühle, in dem Triumph und Niederlage, Hoffnung und Enttäuschung nur einen Wimpernschlag voneinander entfernt waren.
Der Sieg der Argentinier mag glücklich gewesen sein. Doch er ist das Ergebnis mehrerer Faktoren. Zum einen: Im Sport hat der Jäger immer einen leichten psychologischen Vorteil gegenüber dem Gejagten. Die Franzosen fuhren als amtierende Weltmeister nach Katar. Ihr Ziel war die Verteidigung des bereits Erreichten. Die Argentinier wollten den Titel, dem sie 36 Jahre lang hinterherrannten, unbedingt. Angetrieben durch Messi, dem der Pokal noch fehlte und der den Legenden-Status neben Pelé und Maradona anstrebte, vereinten sie alle Kräfte zu einem überdimensionalen Willensakt.
Doch mentale Stärke ist das eine, Teamleistung das andere. Die Argentinier funktionierten als Equipe besser als die Franzosen. Messis Mannschaftskameraden liefen für ihren Kapitän – der Mittdreißiger gönnte sich im Spiel immer wieder Auszeiten. Dafür war sich der Supertechniker nicht zu schade, mit Tacklings in der Verteidigung auszuhelfen.
Zudem boten die Argentinier eine optimale Mischung aus brillanten Ballkünstlern wie Messi oder Ángel Di María und laufstarken Spielern. Darüber hinaus ergänzten sich in der Elf Jugend und Erfahrung auf ideale Weise. So lagen zwischen dem 21-jährigen Talent Enzo Fernández und Messi 14 Jahre Altersunterschied.
Eine ähnliche Symbiose aus ineinandergreifenden Qualitäten wies die deutsche Fußball-Nationalmannschaft auf, die 1972 Europa- und 1974 Weltmeister wurde: In der Abwehr hielt der rustikale Ausputzer Georg Schwarzenbeck dem Edeltechniker Franz Beckenbauer den Rücken frei. Im Mittelfeld arbeitete der „Wasserträger“ Herbert Wimmer dem Passkönig Günter Netzer zu. Im Sturm lauerte der Vollstrecker Gerd Müller auf seine Chance.
Aber die Fußball-Titel von Deutschland Anfang der 70er-Jahre und Argentinien heute stehen für weit mehr als sportliche Siege. Sie zeigen Muster für Exzellenz in der Wirtschaft genauso wie im Leben allgemein: Entscheidend ist der Wille zum Erfolg. Und die Gemeinschaftsleistung eines Teams, das sich aus verschiedenartigen Elementen zusammensetzt und in dem sich jeder für den anderen ins Zeug legt.