Das UN-Flüchtlingshilfswerk erwartet einen weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen aus der Ukraine. Schon jetzt hat der Krieg den größten Flüchtlingsstrom in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst.
Es gehört offensichtlich zum Ziel, das Land unbewohnbar zu machen und die Menschen zur Flucht zu zwingen. Seit Beginn des Krieges war das russische Kalkül offensichtlich: Flüchtlinge gehörten zur Strategie, Druck auf die EU zu machen. Die inneren Streitereien zwischen den Mitgliedsstaaten 2015 und 2016, als eine große Zahl von Flüchtlingen in die EU kam, sind nicht vergessen. So hat das Regime in Moskau offenbar darauf gesetzt, einen neuen Keil zwischen die Mitgliedsstaaten treiben zu können, wenn Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen werden müssen.
Tatsächlich ist die Zahl der in die EU Geflüchteten dramatisch. Nach Angaben des UNHCR (Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen) leben mittlerweile (Stand Mitte Januar 2023) knapp acht Millionen aus der Ukraine geflüchtete Menschen in EU-Ländern. Zum Vergleich: In den Jahren der Flüchtlingskrise 2015/2016 wurden jeweils 1,3 Millionen Asylanträge pro Jahr registriert.
Auch sonst sind die Verhältnisse nicht zu vergleichen. Nicht nur, dass die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen zu keinen großen Streitigkeiten führte. Vielmehr tragen auch Länder, die sich seinerzeit nach Kräften gegen die Aufnahme einer größeren Zahl Geflüchteter wehrten, heute mit die Hauptlast bei der Aufnahme. Polen ist dabei das herausragende Beispiel. Damals erschien eine Aufnahme einer dreistelligen Zahl von Menschen eine Zumutung, heute hat Polen rund 1,5 Millionen aufgenommen (Stand Ende 2022). Und das mit weniger als elf Millionen Einwohnern kleine Tschechien bietet fast einer halben Million Ukrainerinnen und Ukrainern Zuflucht.
In Deutschland sind es etwas über eine Million – nach Angaben des Mediendienstes Integration exakt 1.051.987 (Stand 23. Januar 2023). Der Mediendienst ist eine Publikation vom Rat für Integration, einem gemeinnützigen Verein, dem rund 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angehören, die sich mit Migration und Integration beschäftigen.
Mehr Flüchtlinge als in Krisenjahren 2015/16
Etwa 70 Prozent der erwachsenen Geflüchteten sind Frauen. Rund 350.000 sind Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre, davon knapp 40 Prozent im Grundschulalter.
In Europa sei diesmal „die Solidarität intakt“, konstatierte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson vor dem Jahreswechsel. Diese Solidarität wird weiterhin auf die Probe gestellt. Darin sind sich alle, vom UNHCR über Hilfsorganisationen bis zu Experten, die die Entwicklung des Krieges analysieren, ebenso einig wie die Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen hierzulande.
Die Gründe sind vielfältig und großenteils offensichtlich. Die Hinweise auf eine bevorstehende Großoffensive der russischen Armee verdichten sich fast täglich. Gleichzeitig setzt Russland die Angriffe gegen die Infrastruktur unerbittlich fort. Das Land soll unbewohnbar gemacht, die Menschen vertrieben werden.
Nach UNHCR-Angaben sind rund sechs Millionen innerhalb der Ukraine selbst auf der Flucht. Vor Beginn des Krieges zählte die Ukraine rund 40 Million Einwohner, ein Viertel ist bereits vor dem Krieg geflohen.
Hilfsorganisationen wie Caritas International rechnen mit einer weiteren „Flüchtlingswelle“, wenn die systematische Zerstörung der Infrastruktur weitergehe. „Menschen in einigen Bereichen haben keine andere Wahl als zu gehen“, sagt Gernot Krauß, Ukraine-Teamchef der katholischen Hilfsorganisation.
Die Situation lässt sich an einem Detailbeispiel verdeutlichen: Die Hilfsorganisation unterstützt Bedürftige in der Ukraine mit 56 Euro monatlich. Der Betrag ist auf einer Geldkarte gespeichert. Wenn der Strom wegen der russischen Angriffe ausfällt, dann „funktionieren auch keine Cash-Karten“.
Caritas International arbeitet vor Ort mit Caritas Ukraine zusammen, die von der griechisch-katholischen Kirche getragen wird und die größte Hilfsorganisation im Land ist. Das Problem ist nun, dass auch deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter inzwischen häufig selbst unmittelbar von den Kriegsfolgen betroffen sind, ihre Wohnungen verloren haben, fliehen mussten und damit auch selbst auf Hilfe angewiesen sind.^Je schwieriger die Arbeit vor Ort wird, umso mehr wird es dazu führen, dass weitere Menschen das Land verlassen.
In Deutschland haben Kommunen schon im vergangenen Jahr auf die immer schwierigere Situation hingewiesen. Zu Beginn des Krieges war die Hilfsbereitschaft groß, auch die Bereitschaft, Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Das ist inzwischen weitgehend ausgereizt.
Unterbringung stößt an Kapazitätsgrenzen
Situationen wie 2015/2016, als Sport- und Kulturhallen für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt werden mussten, sollen möglichst vermieden werden. Weil auch Kapazitäten in Aufnahmestellen längst über dem Anschlag sind, werden vielerorts andere Unterbringungen in Container- oder Zeltunterkünften geplant oder bereits umgesetzt.
Das stößt regional auf unterschiedlichste Reaktionen. Im Saarland ist derzeit eine Unterkunft für rund 300 Flüchtlinge vorbereitet in einem Containerdorf, das zuvor nach der Unwetterkatastrophe im Ahrtal genutzt wurde. Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sehen darin eine Entspannung der Situation für die Kommunen. Dass die Kosten höher sind als zunächst veranschlagt, stieß zwar auf Kritik. Ansonsten zeigte sich das Saarland wie bereits in der früheren Flüchtlingskrise flexibel, aufnahmebereit und von großem ehrenamtlichem Engagement unterstützt.
In anderen Regionen zeigt sich ein gegenteiliges Bild. Die Tumulte um ein Containerdorf für 400 Geflüchtete im Mecklenburgischen Gravesmühle sorgten dieser Tage für Schlagzeilen. Der Kreistag musste unter Polizeischutz tagen, um den Beschluss zur Errichtung fassen zu können.
Die Kommunen fordern deutlich mehr Unterstützung vom Bund, um die Herausforderungen zu bewältigen. Das gilt auch für Schulen. Rund 200.000 Schülerinnen und Schüler besuchen inzwischen Schulen, die ohnehin schon über Belastungsgrenzen geklagt hatten. Der Bund hat im vergangenen Jahr dafür 3,5 Milliarden Euro bereitgestellt, weitere 1,5 Milliarden zugesagt.
Die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in die Heimat, die nach wie vor vom überwiegenden Teil der aus der Ukraine Geflüchteten geäußert wird, dürfte nach Entwicklung der Dinge kaum realistisch sein. Der russische Präsident Putin spricht schon seit geraumer Zeit von einem langen Krieg, und die aktuellen Entwicklungen deuten darauf hin.