Bereits im sechsten Jahr findet das Kunstfestival „Ein Sommer in Le Havre“ in der größten Stadt der Normandie statt. „Un Été au Havre“ lädt zu einem Kunstparcours durch die Hafenmetropole im Nordwesten Frankreichs ein.
Dabei sind 28 Installationen unter freiem Himmel im gesamten urbanen Raum zu bewundern. Zwölf neue Werke ergänzen in diesem Sommer die permanente Kollektion. Ein Teil davon wird der Stadt auch zukünftig erhalten bleiben.
Die Idee, das für seine Stadtarchitektur bekannte Le Havre zu einer begehbaren Open-Air-Galerie für zeitgenössische Kunst zu machen, wurde 2017 geboren. Ein denkwürdiges Jahr, in dem die Stadt am Ärmelkanal mit mehr als zwei Millionen Besuchern pompös ihren 500. Geburtstag feierte. Endlich wurde auch ihr Potenzial als Architektur- und Kunsthotspot auf dem internationalen Parkett erkannt. Kein geringerer als Jean Blaise hatte das Festival mit initiiert und bis 2022 kuratiert. Dieses Jahr übernahm der Pariser Kurator Gaël Charbau die künstlerische Leitung.
Open-Air-Galerie für zeitgenössische Kunst
Lange Zeit war Le Havre vom Schicksal gebeutelt. Um seine DNA als „Stadt der Architektur und Künste“ zu verstehen, lohnt es sich, einen Bogen zurück ins Gründungsjahr 1517 zu schlagen. „La Ville“ rund um den „Havre“, wurde von König Franz I. als strategischer Hafen-Standort für militärische Zwecke erbaut. 400 Jahre später fanden Kaffee, Gewürze, Baumwolle und andere Handelswaren den Weg über die Weltmeere in den Transatlantik-Hafen, der sich nach Marseille zum zweitgrößten Hafen Frankreichs entwickelte.
Hier hinterließen Menschen aus aller Welt ihre kulturellen Spuren. Noch heute steht das schmucke „Maison de l’armateur“ (Haus des Reeders) mit seinem achteckigen Lichthof wie ein aus der Epoche gefallener Zeitzeuge im Ur-Quartier „Saint-François“. Historische Wasser-Bassins durchziehen das Altstadtviertel, in der Cité Universitaire leben Studierende in den zu Wohnkuben umfunktionierten Containern. Auch die um 1840 nach Londoner Vorbild gebauten „Docks Vauban“ beherbergen heute Alltägliches wie ein Einkaufszentrum mit Kino und dienen dem Kunstfestival als Video-Projektionsfläche.
Kurz vor Kriegsende 1944 wurde die von den Nazis besetze Stadt nahe der Seinemündung von den britischen Alliierten bombardiert. Rund 5.000 Menschen starben, 12.500 Wohnhäuser waren vernichtet, 80.000 Einwohner obdachlos. 150 Hektar Trümmer wurden zu den Grundsteinen einer architektonischen Neugestaltung.
Das zwischen 1945 und 1965 vom Atelier des Pariser Star-Architekten Auguste Perret erneuerte Stadtzentrum wurde zu einem in dieser Form einmaligen städtebaulichen Ensemble. Mit den der Antike entnommenen Verzierungen und Ornamenten wird diese Bauweise als „struktureller Klassizismus“ bezeichnet. Perret liebte den Industrie-Baustoff Beton. Der aus Glassplittern, Kies oder Sand bestehende Schutt der kriegszerstörten Gebäude wurde zermahlen dem Stahlbeton beigemengt und wie Naturstein bearbeitet.
Auch nach Perrets Tod 1954 trugen zahlreiche renommierte Architekten zur weiteren Gestaltung der nordfranzösischen Stadt bei – darunter Jean Nouvel, Oscar Niemeyer oder Reichen und Robert. Dabei können viele die Schönheit der wie aus einem Guss geformten Innenstadt erst auf den zweiten Blick entdecken. Lange wurde sie kritisch als sozialistisch anmutend wahrgenommen, 2005 aber in die Riege der Unesco-Weltkulturerbestädte erhoben.
Seine Geschichte macht Le Havre zum passenden Rahmen für zukunftsweisende Kunstformen, die es während des Sommer-Festivals „Un Été Au Havre“ zu entdecken gibt. Dauerhaft im Stadtbild „verankert“ sind mehrere gigantische Kunstwerke, das wohl Bekannteste steht unübersehbar am Hafen. Für seine 288 Tonnen schwere und 28,50 Meter hohen „Catène de Containers“ von 2017 hat Vincent Ganivet 21 bunte Schiffscontainer zu zwei gigantischen Bögen zusammengefügt. Ein prägnantes Eingangstor, das zu vielen anderen Installationen führt. In Richtung Strand zum Beispiel kommt man an einem Kubus aus Glas und Metall mit Durchblick zum Meer vorbei: Das „MUMA“, Museum der modernen Kunst André Malraux, beherbergt die zweitgrößte Sammlung impressionistischer Malerei in Frankreich – unter anderem, weil Claude Monet in der Stadt seiner frühen Kindheit diese Kunstform entwickelte.
Omnipräsent überragt die Kirche St. Joseph – Le Havres spiritueller, achteckiger 84 Meter hoher Beton-Kirch-Leuchtturm – die Stadt am Ärmelkanal. Perrets 1959 eingeweihtes Meisterwerk symbolisiert quasi den Wiederaufbau der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg und ist ein Denkmal für die Opfer der Bombardierungen. Das Lichtkonzept der Kirchenfenster wurde von der Glaskünstlerin Marguerite Huré entwickelt. Über 12.000 mundgeblasene „Antiglasfenster“ changieren in 50 farblichen Abstufungen. Bei ihrer Arbeit für den diesjährigen „Kultursommer“ spielt die französische Künstlerin Isabelle Cornaro mit dem Begriff von Original und Kopie in der Kirche im Stadtbahnhof. Cornaros „Echo des Farbspiels“ taucht Außenplatz und Innenhalle in farbig wechselndes Licht.
50 changierende farbliche Nuancen
Auf dem Weg zum Strand leuchten Karel Martens „Couleurs sur la plage“ – bunt gestreifte Strandhütten, die das Dekret der Stadtgründung versinnbildlichen. Mitten auf dem Strand steht ein Rahmen aus strahlendweißem Beton. Die Skulptur „Plage“ (Lang/Baumann, 2018) steht für die Sicht auf die sich verändernde Stadt. Das ist ganz im Sinne von Kurator Gaël Charbau, der die Arbeit der Künstler als einigende Sprache versteht, um die Stadt mit Blick auf die Welt von morgen besser wahrzunehmen. Der Parcours streift die „Porte Océan“, ein von zwei torartigen Hochhäusern flankiertes Monumentalgebäude der Perret-Ära. Der Rathausplatz – einer der größten Europas – ist von Gärten und großen Wasserflächen umgeben. Hier begegnet man Kultursommer-Installationen wie den beiden Skulpturen „It Owl“ und „Buffalo Croc“ des Künstlers Stefan Rinck. Einer allwissend wirkenden, totem-artigen Steinfigur, einem Mix aus aztekischem Wesen und Pop-Emoji steht dabei eine krokodilartige Bank zum Verweilen gegenüber. Fußläufig liegt das große „Bassin du Commerce“.
Einen festen Ankerpunkt der Moderne bildet die Bibliothek von Oscar Niemeyer im Herzen des „Volcan (1982)“. Der etwa 5.000 Quadratmeter große futuristische Bau ist gleichzeitig auch das Kulturzentrum und ein weiteres Wahrzeichen von Le Havre, dessen Ausläufer sich bis in die hängenden Gärten ziehen. Dort thront mit Meerblick die „Palinopsie“ – ein in allen Regenbogenfarben changierender für 2023 nachgebauter Glasbunker der Künstlerin Fleur Helluin. „Kunst darf sich wie ein wohliges Schaudern in allen Winkeln der Stadt verbreiten, um die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Raum aufzuheben.“ Das wünscht sich Gaël Charbau auch für die nächsten „Étés“, in denen er das Festival zu einem Vorzeigeort aller Kunstgenres erweitern möchte.