Die Journalistin und Autorin Christine Westermann liest demnächst in der Caesars Bar in Victor’s Residenz-Hotel Schloss Berg aus „Die Familien der anderen – Mein Leben in Büchern“.
Frau Westermann, die Liste der vorgestellten Bücher in „Die Familien der anderen“ habe ich durchgezählt und bin auf sage und schreibe 47 gekommen. Eines davon ist das Anti-KriegsBuch: „Die Waffen nieder!“ von Bertha von Suttner, die 1905 den Friedensnobelpreis bekommen hat. Ich behaupte, dass dieses Buch von besonderer Bedeutung für Sie ist, richtig?
Das brauchen Sie gar nicht zu behaupten, das habe ich in dem Buch geschrieben. Das war ein Buch, das mir mein Vater sehr früh in meinem Leben – und sehr spät in seinem Leben – gegeben hat. Da ich wusste, dass es für ihn, der im Ersten Weltkrieg bei der Schlacht von Verdun schwer verwundet wurde, eine große Bedeutung hat, habe ich es gelesen.
Sehr früh …
Ja, mit 12 oder 13. Ich bin jetzt 74 Jahre, da habe ich Jahreszahlen nicht mehr so exakt im Kopf. Ich habe das Original gelesen, das meinem Vater gehörte. Er hatte Anmerkungen in Sütterlinschrift an den Rand geschrieben.
Glauben Sie, dass dieser Text, der 1889, 25 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, erschienen ist, heute noch einer Lektüre lohnt?
Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Aber wenn man sich die Kriege und Konflikte auf dieser Welt anschaut, dann finde ich diese Überschrift „Die Waffen nieder!“ sehr passend. Ich habe lange nicht mehr reingelesen, da wäre jetzt vermessen zu sagen, das sollte man unbedingt lesen. Es ist kein Sachbuch, es ist ein Roman. Es ist die Geschichte einer Frau, die in ihrem Leben zwei Männer durch den Krieg verliert. Wie man heute in der Rückschau weiß, durch unsinnige Kriege. Kriege sind, nicht nur in der Rückschau, unsinnig. Oder sinnlos. Es ist ja wie in einer Beziehung: Besser, man redet miteinander, als sich die Köpfe einzuschlagen. Reden hat noch immer geholfen, glaube ich.
„Die Leser lieben das Buch, die Kritiker schreiben es nieder“, berichten Sie über Suttners Bestseller. Solch große Gegensätze gibt es ja heute auch noch zwischen Lesern, die als Buch-Kritiker auftreten, und Lesern. Was kann der Grund sein?
Ich glaube, der Grund ist, dass es in Deutschland diesen merkwürdigen Gegensatz zwischen ernster Literatur und unterhaltsamer Literatur gibt. Ich bin jemand, der unterhaltsame Literatur bespricht und empfiehlt. Da sind die Meinungen der Kritiker unterschiedlich. Wenn jemand Germanistik studiert hat, liest er ein Buch ganz anders als ich, die ich Journalistin bin, auf einer Journalistenschule war. Zudem selbst Bücher geschrieben habe. Ich habe stets die Leser im Sinn. Ich glaube, dass man jemandem, der von acht bis fünf in einem Büro sitzt, nicht immer ganz schwere Kost zumuten kann. Ich finde, wenn einem ein Buch nach 40, 50 Seiten nichts sagt, dann kann man es getrost weglegen. Ich bespreche im Monat sechs oder sieben Bücher. Das Anstrengende ist, das Buch zu finden, bei dem ich das Gefühl habe, ja, das sagt mir was, und ich habe Lust weiterzulesen – und es weiter zu empfehlen.
Goethes „Faust“ gehört in vier Bundesländern noch zur Pflichtlektüre. Gelacht habe ich, wie Sie uns teilhaben lassen an Ihrem Leseerlebnis von Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“. „Wer bestimmt was Weltliteratur ist? Hinterfrage ich erst gar nicht“, schreiben Sie. So einfach lasse ich Sie nicht davonkommen und frage: Gibt es eine Weltliteratur?
Weiß ich nicht. Ich habe hier den „Kanon“ von Reich-Ranicki stehen (Reich-Ranickis Empfehlungen werden unter dem Reihentitel Der Kanon. Die deutsche Literatur. herausgegeben; Anm. d. Red.) und denke immer noch: Ich müsste mehr Klassik gelesen haben … Wenn ich mehr Zeit hätte, und eben nicht die Verpflichtung spürte, auf unterschiedlichen Kanälen fünf oder sechs Bücher im Monat zu empfehlen. Vielleicht finde ich noch die Zeit, mich an diesen Reich-Ranickischen Kanon zu machen. Ich weiß es nicht. Wenn Sie die Schule ansprechen, kommt es darauf an, wie der Deutschlehrer das Interesse an Literatur vermitteln kann. Ich habe „Tschick“ vor Jahren empfohlen, das ist zwischenzeitlich zum Glück Schullektüre geworden. Das finde ich toll, wie man beispielsweise durch dieses Herrndorf-Buch junge Menschen zum Lesen bringt, und die nicht sagen, ach nein, lesen ist mir zu langweilig und zu anstrengend. Ich vermute, wenn ein Deutschlehrer es schafft, aktuelle Bezüge zum „Faust“ von damals herzustellen, könnte das spannend werden. Das kann ich nicht beurteilen, weil ich nicht weiß, wie Deutschlehrer das heute angehen.
„Die Deutschlehrerin“ von Judith Taschler haben Sie „wie in einem Rausch gelesen“. Diesen Rausch will ich auch erleben und habe das Buch beim Buchhändler bestellt. Was kommt da auf mich zu?
Es kommt eine Liebesgeschichte, eine Trennungsgeschichte, eine Lügengeschichte, ein Thriller, ein Beziehungsdrama auf Sie zu. Eine Geschichte mit vielen überraschenden Wendungen. Eine Geschichte, bei der man nie weiß, wer lügt, und wer die Wahrheit sagt. Eine Geschichte mit einem unerwarteten Twist am Ende. Das Buch habe ich sehr gerne gelesen.
Ihre Empfehlungen befördern den Umsatz im Buchhandel. Deutschland gilt noch immer als Lese-Land. Wie betrachten Sie die Entwicklung?
Da bin ich kein Experte, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich mache viele Lesungen. 90 Prozent der Anwesenden sind Frauen. Frauen sind die, die Bestseller machen. Ich behaupte, man muss die richtigen Bücher finden, um Menschen zum Lesen zu bringen. Wenn jemand sagt, Bücher interessieren mich nicht, dann, glaube ich, hat er nur die falschen Bücher gelesen. Ich sehe das natürlich aus meiner Warte. Und denke, wie schön das ist, wenn man abends, wenn die Glotze aus ist, mit einem Buch auf dem Sofa liegt und wie ganz anders man diesen Tag beschließt. Wenn ich höre und sehe, was die Leute sich Tag und Nacht auf die Ohren hauen, mit Podcasts und Instagram, und was es sonst noch alles an Ablenkung gibt, denke ich: Ja, Leute, ihr habt auch gar keine Zeit mehr zu lesen. Woher soll die Zeit kommen? Habe ich eben etwas gegen Podcast gesagt? Ich produziere gerade selbst einen sehr schönen Podcast, wie ich finde. Den mache ich mit einer sehr viel jüngeren Kollegin, mit Mona Ameziane. Sie ist 29. Der Podcast ist erfolgreich und heißt „Zwei Seiten“. Wir haben jeweils ein Thema in einer Folge. Das kann Lüge, Freundschaft, Lust und anderes sein. Die eine empfiehlt dann der anderen ein Buch zu diesem Thema und umgekehrt, wir reden darüber. Es ist jedes Mal aufs Neue beeindruckend zu erleben, mit wieviel Leidenschaft wir bei der Sache sind. Und das kommt wohl auch bei den Hörern und Hörerinnen genauso rüber. Ist egal, ob mit Buch in der Hand oder auf dem E-Reader. Besser jedenfalls als gar nicht lesen. Ich persönlich will das Buch immer in meinen Händen halten. Ob es in 50 Jahren noch Bücher gibt? Ich würde es mir sehr wünschen. Wahrscheinlich wird es immer Bücher geben – auch wenn sie nur noch elektronisch daherkommen.
Frau Westermann, was lesen Sie derzeit?
Ich habe unlängst ein tolles Buch zu Ende gelesen: „Paradise Garden“. Die Autorin ist Elena Fischer, das Buch ist beim Diogenes Verlag erschienen. Gerade habe ich die ersten 20 Seiten von „Nicht von dieser Welt“ von Michael Ebert, ein Journalist, der zum ersten Mal aus seinem Leben erzählt, gelesen.