Orientierungen

Leserbrief

Lasst uns offen streiten!

Nein, ich möchte nicht provozieren. Aber es treibt mich eine quälende Frage und dies soll ein ernster Versuch sein, einer Antwort näher zu kommen: Wo befinde ich mich und wie bewege ich mich im Spannungsfeld zwischen einer offenen Debattenkultur einerseits und dem Gebot einer klaren Positionierung gegen Antisemitismus, Judenhass und das Schüren von Angst?

Die Hamas hat schreckliche Massaker in Israel mit Hunderten von Toten verübt, für Verwundete, für Waisen, ja für Menschen, die ihre ganze Familie verloren haben, ein körperliches und seelisches Trauma von unbeschreiblichem Ausmaß. Und ein kollektives Trauma für alle Juden. Diese Gewalttaten verurteile ich ohne Wenn und Aber. Und ich bekenne mich ohne Abstriche zum Existenzrecht Israels und daraus folgt zwangsläufig, dass Israel sich auch verteidigen darf, natürlich auch militärisch.

Dies vorausgeschickt, muss es aber erlaubt sein, sich auch zum Schicksal der Palästinenser zu äußern. Und hier beginnt mein eigentliches Thema. In Kommentierungen und Talkshows vor allem in den ersten Tagen nach dem schrecklichen Hamas-Terrorangriff habe ich mehr als gelegentlich den Eindruck gewonnen, dass Äußerungen zum jahrzehntelangen Leid des landenteigneten und geknechteten palästinensischen Volkes oder gar pro-palästinensische Demonstrationen reflexhaft mit dem Vorwurf des Antisemitismus gebrandmarkt wurden. Dieser Reflex mag verständlich sein, aber er ist gefährlich. Er fordert völlig zu Recht Empathie und Solidarität mit den in Israel und hier lebenden Juden, unterbindet aber gleichzeitig offene Empathie mit vielen unschuldigen zivilen Palästinensern und schafft damit einen emotionalen Graben und die Basis für folgende Missverständnisse und Verwechslungen:

Mitunter werden „die Juden“ und „Israel“ einerseits und „die Palästinenser“ und die Hamas beziehungsweise Hisbollah gleichgesetzt. Die Hamas ist eine Terrororganisation, ja mehr, gefüttert von mehreren islamistischen Quellen ist sie mittlerweile zu hybriden Kriegen ungeheuerlichen Ausmaßes fähig. Nach vorliegenden Schätzungen stehen jedoch nur etwa 30 Prozent der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza, die von ihr verwaltet wird, hinter der Hamas. Leider ist es auch hier so, dass die meisten Unterdrückten die Stillen sind. Sie sind gleich doppelt unterdrückt, nämlich von Israel und von der sie verwaltenden Hamas: ohne Recht auf freie Wahlen und freie Meinungsäußerung, indoktriniert und zum Judenhass angestachelt, missbraucht als menschliche Schutzschilde.

Große Unterschiede auch in Israel: Die orthodoxen Juden stehen hinter der Politik der derzeitigen Regierung, inklusive der Besiedelungspolitik. Daneben gibt es aber auch sehr viele moderate, eher auf Koexistenz hoffende Juden und natürlich konfessionslose Israelis und hier lebende Palästinenser. Differenzierung tut also Not: Der Staat Israel, die aktuelle Regierung, das Judentum als Religionsgemeinschaft und die israelischen Bürger haben teilweise sehr unterschiedliche Interessen. Der Staat Palästina, die Hamas im Gazastreifen, der Islam, von dem es durchaus verschiedene Richtungen gibt, und die palästinensischen Zivilisten ebenso.

Die Anerkennung des Existenzrechts Israels – der Staat wurde als völkerrechtlich anerkannter Schutzraum für die Juden nach der Schoah gegründet – bedeutet also nicht zwingend Zustimmung zur Politik Israels. Sie hat immer wieder durch Unterdrückung und Besiedlung ständig weiterer Palästinenser-Gebiete den Hass dieses Volkes, das ja auch ein Existenzrecht hat, auf Israel sicher nicht begründet, aber doch zumindest immer wieder befeuert. Der israelische Historiker Tom Segev sagte am letzten Sonntag im ZDF, der Konflikt, der nicht gelöst werden könne, aber wenigstens gemanagt werden müsse, werde unter Netanjahu katastrophal gemanagt. Die israelische Regierung ist noch immer in einem Schockzustand und hat die Aggression mit größtmöglicher Eskalation, der Androhung der Auslöschung der Hamas in Gaza, beantwortet. Friedenskonzepte sehen anders aus. Darauf hat klugerweise Joe Biden hingewiesen, als er gegenüber Netanjahu sagte: „Der Terror der Hamas soll nicht euer 9/11 werden. Wir waren verletzt und wütend, daraus ist der Irak-Krieg und der jahrzehntelange Kampf gegen den IS entstanden.“ Guterres hat darauf hingewiesen, dass auch Israel sich bei seinen Maßnahmen gegen die Hamas an Völker- und Kriegsrecht halten muss und massenhafte Tötungen von Zivilisten nicht als Kollateralschaden akzeptiert werden können. Für diese Selbstverständlichkeit wurde er gescholten, seine Forderung sei eine Entsolidarisierung mit Israel. Ich jedenfalls konnte das so nicht verstehen.

Das Existenzrecht Israels bleibt unverbrüchlich bestehen. Das Selbstverteidigungsrecht jedoch läuft Gefahr, sich zu delegitimieren, wenn die Menschenrechte der palästinensischen Zivilisten und das Völker- und das Kriegsrecht massiv gebrochen werden. Ich wünsche den Juden, dass ihr Staat Israel nicht diesen Weg geht und sich Demokratie und Humanität als Leitbild bewahrt. Alles andere wäre ein fulminanter Sieg für die Hamas und ihre Verbündeten, ein absurder Sieg für eine menschenverachtende Terrororganisation und deren schiitische Anpeitscher und Geldgeber im Hintergrund.

Wir brauchen eine offene und angstfreie Debattenkultur, gerade hier im freiheitlich-demokratischen Westen. Nur mit ihr kann man Perspektiven entwickeln, vielleicht nicht für einen Frieden, aber vielleicht wenigstens für eine gewaltfreie Koexistenz, im Interesse der Zivilbevölkerung auf beiden Seiten. Robert Habeck hat sich für eine solche Debattenkultur und Rede- und Demonstrationsfreiheit für alle eingesetzt. Und die Bedingungen genannt: friedliches und respektvolles Miteinander aller Glaubensrichtungen in Deutschland, kein Antisemitismus, keine Gewalt, kein Aufruf zu Gewalt, kein Schüren von Angst. Genau so: Lasst uns offen streiten! Knut Engler