Wer wachsen will, mehr Aufträge erhalten und vor allem abarbeiten möchte, braucht mehr Arbeitskräfte. Die aber fehlen in zunehmendem Maße in der saarländischen Wirtschaft – und immer öfter auch im Einzelhandel.
Es ist vor allem die Transport- und Logistikbranche, die nach einer aktuellen IHK-Umfrage im Saarland unter akuten Personalengpässen leidet. 80 Prozent der Logistiker, aber auch 78 Prozent der Hotellerie- und Gastronomiebetriebe geben an, dass ihre Geschäfte unter dem Arbeitskräftemangel leiden. Da kommt der Handel mit 40 Prozent der Betriebe noch relativ gut davon, doch auch hier sind die ersten Auswirkungen spürbar.
„Ansprüche der Azubis steigen“
Michael Genth ist Inhaber eines Lederwaren-Geschäftes. „Hier im Saarland haben wir keine Sondersituation, die sich vom Bundestrend abhebt“, so Genth, gleichzeitig Vorsitzender des Vereins für Handel und Gewerbe der Landeshauptstadt Saarbrücken. Das Phänomen sei gesamtgesellschaftlich zu sehen. Er beobachtet, dass sich die Einzelhändler mehr und mehr anpassen. „Wir sehen: Die Ansprüche unserer Kunden steigen genauso wie die Ansprüche unserer jungen Auszubildenden.“ Mit Praktika und berufsorientierenden Tagen versuche der Handel, Jugendliche von seinen Vorzügen zu begeistern, um mehr Arbeitskräfte heranzuziehen. Immer öfter stünden nun die Vorteile gegenüber anderen Jobs im Vordergrund: Genth betont, dass die Vergütung attraktiv sei, „wir setzen Equal Pay, also die gleiche Bezahlung für Frauen wie Männer, ohnehin schon seit langer Zeit um“, für beide gebe es gleiche und faire Aufstiegschancen. Ein freier Tag in der Woche und ein stärkerer Fokus auf die Erreichbarkeit per Jobrad oder Jobticket seien mittlerweile gute Gründe für Auszubildende. Die gleichzeitig gehobenen Ansprüche, so Genth, gebe es jedoch auf zwei Seiten. „Azubis sind nicht nur Azubis, sondern auch Kunden des Einzelhandels. Die Ansprüche beider Gruppen steigen. Das versuchen wir auch den Auszubildenden zu vermitteln.“ Generell wolle man mehr Menschen mit den eigenen Angeboten ansprechen als bisher. Und wenn die Qualifikation nicht reiche, könnten die Betriebe nachsteuern, so Genth.
Zum Start des Ausbildungsjahres 2023 waren 2.700 Ausbildungsstellen im Saarland unbesetzt, die meisten davon im Einzelhandel, im Verkauf, im Büromanagement – häufig, weil Azubis und Betrieb nicht zusammenfinden. Ähnliches findet sich auch auf Bundesebene: Wie in den Vorjahren waren deutlich mehr betriebliche Ausbildungsstellen als Bewerberinnen und Bewerber gemeldet, so die Bundesagentur für Arbeit. Auf 100 gemeldete betriebliche Ausbildungsstellen kamen rechnerisch – ebenso wie im Vorjahr – 80 gemeldete Bewerberinnen und Bewerber. „Die Passungsprobleme sind jedoch nicht kleiner geworden, sondern größer“, sagt Andrea Nahles, Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur. „Es wird zunehmend herausfordernder, Ausbildungssuchende und Betriebe zusammenzubringen. Um hier voranzukommen, braucht es noch mehr Kompromissbereitschaft von beiden Seiten.“ Am Ende des Beratungsjahres waren am 30. September 2023 noch 73.000 unbesetzte Ausbildungsstellen zu vermitteln. Gleichzeitig waren 26.000 Bewerberinnen und Bewerber noch unversorgt, fast 4.000 mehr als im letzten Jahr.
Doch wo sind die ausbildungswilligen potenziellen Fachkräfte? Einige von ihnen wollen womöglich gar nicht in eine Ausbildung: Sie sind Teil der „Neets“. Hinter diesem englischen Akronym verbergen sich Jugendliche, die nicht in Ausbildung sind und nicht arbeiten (Englisch: Not in Education, Employment or Training). Der Begriff ist laut Experten eher diffus, denn darunter fallen auch diejenigen, die gerade zwischen Schule und Ausbildung auf Ausbildungsplatzsuche sind oder sich zwischen den beiden Lebensabschnitten eine Auszeit nehmen und beispielsweise reisen. Mitgemeint sind allerdings auch diejenigen, die sich vom Ausbildungsmarkt bewusst abkoppeln, weil ihnen die Orientierung fehlt.
Quote der Ungelernten steigt
Insgesamt nimmt die Zahl der „Neets“ nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung vom August 2023 seit Jahren ab, auch wenn es während der beiden Pandemie-Jahre einen erneuten Anstieg gab. Dennoch fallen laut Eurostat im Jahr 2023 noch immer zirka 600.000 Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren in diese, zugegebenermaßen, rein statistische Kategorie. Hinter den Problemgruppen der „Neets“ stünden „Jugendliche mit schlechten Startchancen, Ausbildungsbewerber:innen, die leer ausgehen, Ungelernte und Menschen, die aufgrund von multiplen Schwierigkeiten ganz von der Bildfläche verschwunden sind“, so die Forscher der Bertelsmann-Stiftung.
Insbesondere Menschen ohne Berufsausbildung müssten in den Fokus genommen werden, empfehlen die Autoren der Studie. Die Ungelerntenquote steige Jahr für Jahr, laut Bundesbildungsbericht 2023 blieben 17,8 Prozent der 20- bis 34-Jährigen ohne Berufsabschluss. Über ein Drittel der jungen Menschen mit Hauptschulabschluss zwischen 20 und 34 Jahren besitzen demnach keinen Berufsabschluss, bei denjenigen ohne Hauptschulabschluss seien es sogar drei Viertel.
„Das ist ohnehin das A und O – eine fundierte Ausbildung“, sagt Michael Genth. „Für die müssen wir alle etwas tun, wenn wir eine gute Zukunft haben wollen.“