Um die 50 Produktionen haben in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten ihre Probenräume verlassen, viele der Stücke wurden mehrfach ausgezeichnet. Jetzt feiert die Company Nico and the Navigators ihr 25-jähriges Bestehen.
Wer Arbeit hat, überschlägt sich fast; der Rest langweilt sich zu Tode. Mit diesem Widerspruch zwischen beschäftigt sein und sich beschäftigen müssen, setzten sich Nico and the Navigators in „Eggs on Earth“ auseinander. Das war Anfang Juni 2000 in den Berliner Sophiensälen, ganz am Anfang einer Erfolgsgeschichte, die seit 25 Jahren währt – und auf kein Ende zuläuft. Bereits in diesem Stück, einem der ersten der Kompanie, manifestiert sich, was Nico and the Navigators mit leichten Schwerpunktverlagerungen bis heute auszeichnet: „Eggs on Earth“ sind kalkuliertes Bildertheater der leisen, intensiv nachwirkenden Art. Oliver Proskes bis ins Detail ausgeklügelte Bühne ist ein praktikables Baukastensystem. Als blauer Quader mit verschiebbaren Wänden, sich öffnenden Klappen und begehbarem Dach ist es Labyrinth und Schneckenhaus, verschlingende Arbeitsmaschine und bergendes Refugium.
Halbverdeckte, gesichtslose Arbeitsmenschen defilieren anfangs in Endlosschleife durch das Gebilde, quellen hervor. In korrekten blauen Anzügen, Akten oder Taschen in der Hand, zwei als Touristen mit dem Weltatlas überm Kopf. Die sieben Jugendlichen wandern fragend durch den Alltag und staunen über dessen Ungereimtheiten. Einzelne Sätze flüstern sie schlaglichtartig in den Raum, abgedroschene Phrasen und Floskeln, auch Wünsche an die Zukunft. „Ich will nach oben – Sie auch?“ oder „Was können Sie?“ heißt es und „Geduld, Ihr Vorgang wird bearbeitet“. In Hohngelächter erstickt das Bilanz-Geschwafel eines Teamchefs. Kein Platz für Versager in einer erfolgsorientierten Welt. Wenn mehrmals abstruse Lebensläufe reflektiert werden, die nach dem Studium mit halben Welttouren begannen, um als Friseur oder Bistrobesitzer in einer Kleinstadt zu enden, führt das die propagierte Mobilität junger Kader und ihre unbegrenzten Aufstiegschancen ad absurdum.
„Ist es zu spät, um früh anzufangen?“ lautet eine bange Frage. Sie und viele andere im Spannungsfeld von Arbeitsstress und Freizeitszwang, am Rand des Abgrunds und der Vereinzelung werden auf gescheite, witzige, absurde, auch melancholische Weise Bild. In ihrer langsamen, gründlichen Inszenierung verleugnet Nicola Hümpel ihren einstigen Lehrer Achim Freyer nicht.
Ravels „La Valse“ und Chopins Trauermarsch, Opernarie und Country, Beatles und Janis Joplin untermalen ein hochsensibles Stück Tanztheater mit exzellenten Darstellern – Schauspielern, Tänzern, einem spielenden Industriedesigner – von bezaubernder Natürlichkeit. „Weiter“ lautet optimistisch eines der letzten Worte.
Entschieden weiter ist es seither mit Nico and the Navigators gegangen. Etwa mit „Lilli in putgarden“ ein Jahr später und wiederum in den Sophiensälen. Haben Dinge eine Seele, lautet darin die Frage der Navigators. Sie beginnen bei sich selbst zu fahnden. Ausgerüstet mit Videokamera, Fotoapparat, Tonband und Zeichenmaterial inspizieren sie ihre eigenen Wohnungen und halten fest, was sie bei den Besichtigungen vorfinden. Welches sind die Lieblingsgegenstände, welche Geschichten verbinden sie mit den Besitzern, wann können Dinge über uns Gewalt bekommen? „Lilli in putgarden“ ist der dritte Teil des ambitionierten Zyklus „Menschenbilder“, der sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit den ambivalenten Ausdrucksformen zwischenmenschlicher Kommunikation beschäftigt. Die vielfältigen Verhaltensrituale übersetzen die Navigators in eine plastische Theatersprache, die den Besucher gedanklich einbezieht und anregt.
Skurriles Menschen-Panoptikum
Ihr und ihren Navigatoren entspringt jene überbordende Bilderwelt: Nicola Hümpel, gebürtige Lübeckerin mit musikalischem Hintergrund, Absolventin der Hochschule für Bildende Künste Hamburg, daneben Unterricht bei Achim Freyer am Bauhaus Dessau. Ihr erstes Stück inszeniert sie in Dessau, gründet dort gemeinsam mit Oliver Proske 1998 Nico and the Navigators. Schon im Jahr darauf ziehen sie als „artists in residence“ an die Berliner Sophiensäle, wo ihr Aufstieg beginnt. „Eggs on Earth“ sind auch international der Durchbruch. Forscht etwa „Obwohl ich dich kenne“ 2008 noch eher schauspielhaft dem Kampffeld Freundschaft nach, ihren Schönheiten und Misslichkeiten, und besticht auch „Der Familienrat II“ von 2008 als gemeiner Fight ums Gute durch fein komponierte Bildmetaphern, so wendet sich Nico schon ab 2006 dem Musiktheater zu: als szenisch starkem Mix aus Wort, Gesang und Tanz. Auf Nicos gleichnishafte Weise entsteht eine Reihe sinnstiftender Projekte, die den Zuschauer inspirieren, motivieren, navigieren wollen.
Das Pasticcio „Anæsthesia“ plündert gemeinsam mit der österreichischen Musicbanda Franui den Händel-Fundus und schafft eine fröhliche Spielwiese barocken Theaters aus heutiger Sicht, uraufgeführt 2009 bei den Händel-Festspielen in Halle und von dort zu Gastspielen in die Welt gereist. Rossinis „Petite Messe solennelle“ formt Nico 2011 zu einem amüsanten Bilderbogen über Religiosität in unserer Zeit um: Können wir nach allem Übel und in der Phase eines rigiden Spätkapitalismus den naiven Worten des Messetextes noch trauen, ihnen gar glauben? Zustande gekommen ist eine das Musikwerk überwölbende Gesamtkonstruktion voller Fragen, Verunsicherungen und Zweifel, ein verschmitzter Religions-Diskurs und ein nachdenkliches Plädoyer für Menschlichkeit.
Auf ihre besondere Art waren auch Bach, Schütz, Schubert und Mahler vor Nicos Zugriff nicht sicher. Selbst Shakespeare geht sie 2013 an die Versdichtung. In schönheitstrunkenem Liebesschmerz tänzelt er höchstselbst durch seine Sonette und wird mit einem Mann von heute konfrontiert, dem als Abiturient jene Sonette nebulös vorkamen und der nun Umweltschützer ist. Wortsang und – auch hier – Tonklang verschmelzen zu einem vergnüglichen Kunstwerk mit überraschenden Auf-Brüchen bis ins Rockige. Opulenter, sagt Nico, seien ihre Stücke geworden, als Grundthema seien geblieben: die Widersprüche im menschlichen Verhalten, wenn Sprache und Haltung nicht zueinander passen wollen.
Zu welchen Irrtümern das führt, welchem skurrilen Menschen-Panoptikum, welchen tragikomischen Verrenkungen, Körperlügen, Alltagstragödien, das seziere sie in den Arbeiten, um jenes Körnchen Wahrheit zu finden, das unser wölfisches Überlebens-Gen noch zulässt. Und sie möchte Hoffnung auf die Bühne tragen, damit wir unser Talent zum Glücklichsein nicht verlieren. Dass die darstellerischen Mittel gleichwertig auf der Szene stehen, ist ihr wichtig: Begegnung auf Augenhöhe. Wir besetzen nicht, wir entwickeln, lautet ihr Credo, angeleitete Improvisation ihre Methode, die sie mittlerweile an renommierten Schulen unterrichtet, ebenso wie sie an namhaften Opernhäusern inszeniert. Um die 50 Produktionen haben in 25 Schaffensjahren die Probenräume verlassen, mehrfach ausgezeichnet, getragen von einem verschworenen Darsteller-Team – und maßgeblich von Oliver Proske, dem studierten Industriedesigner, nun Geschäftsführer, technischer Leiter und Bühnenbildner von schier unerschöpflicher Fantasie in der zweckdienlichen Nutzung von Objekten. Mit einem kompakten Programm im Radialsystem feiern Nico and the Navigators in der kommenden Woche 25-jähriges Bestehen.