Immer mehr Schüler bleiben der Schule fern. Für sie ist diese ist kein attraktiver Ort. Das muss nicht sein, sagt der Pädagoge und Jugendforscher Menno Baumann. Er fordert eine Rückbesinnung auf das „Kerngeschäft“.
Herr Baumann, immer mehr Schülerinnen und Schüler bleiben der Schule fern. Seit Jahren wird intensiv darüber diskutiert. Die Fortschritte sind überschaubar. Woran liegt das?
Im Grund genommen wissen wir schon lange, wie gute Pädagogik funktioniert. Es gibt auch keine Spezialpädagogik für Kinder, die besonders auffällig oder besonders schulabsent sind. Es geht darum, konsequent gute Pädagogik zu machen, die man immer wieder an die aktuellen Situationen von Kindern anpassen muss. Es ist ein Unterschied, ob man in einer Phase sehr starker Arbeitslosigkeit ist oder in einer Phase nach einer Pandemie oder einer Phase mit einem hohen Anteil von Menschen, die alles zurücklassen mussten und jetzt unter Fluchtbedingungen hier sind. Da müssen wir immer wieder fragen, was unser Wissen über Pädagogik in dieser aktuellen Situation bedeutet. Ich gebe Ihnen aber recht: Was gute Pädagogik ist, das wissen wir eigentlich seit 50 Jahren.
Das gilt auch für die Bedeutung des Verhältnisses zwischen Lehrkräften und Schülern. Sie betonen die Rolle des Lehrers, der Lehrerin. Ist das etwas in Vergessenheit geraten?
Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass wir in der Pandemie eine völlige Fokussierung auf die Hochleister erlebt haben. Alle haben sich Gedanken über das Abitur gemacht, niemand hat sich Gedanken gemacht über die Abschlüsse an den Berufsschulen, wobei dort das Prüfungswissen berufsbiographisch betrachtet viel relevanter ist. Nach dem Abitur wird vieles vergessen, aber was ein Koch während seiner Berufsausbildung lernt, ist zum Teil lebenslang bedeutsam. Wir hatten eine völlige Fokussierung auf High Level, auf Mathe, Englisch und andere Fächer. Beziehungsarbeit kam nicht vor. Deshalb, glaube ich, ist das Bedürfnis, sich wieder auf das Thema Beziehung zu besinnen, besonders hoch. Im Grunde geht es um das Kerngeschäft, weg von einer Unterrichtstechnologie, stärker zurück zu Pädagogik.
Was sind tiefere Gründe, warum junge Menschen der Schule zunehmend fernbleiben?
Die erste Frage ist: Was hat Schule mit mir zu tun. Es gibt Kinder, die bringen nicht die klassischen Kompetenzen mit, und dann sind sie in der Schule ganz schnell an dem Punkt, wo sie nichts mehr erreichen können. Es ist ein Aspekt der Lebensweltorientierung und der vielfältigen Ressourcen, dass ich mich dort vertiefen darf, wo meine Stärken liegen, und nicht gezwungen bin, meine Konzentration auf die ganz großen Fächer zu legen. Wenn ich eine Begabung für Sport oder Musik habe, habe ich trotzdem nur eine Stunde in der Woche. Es geht also darum, ob ich frühzeitig sehen kann, dass ich das, was ich gut kann, auch einbringen darf. Ich würde das sogar noch erweitern: Wenn es gelänge, das auf Familien auszuweiten, deren Fähigkeiten einbringen zu können, zum Beispiel bei Schulfesten, dann wird Schule ein Ort, wo ich auch gerne sein will. Dann lassen sich tragfähigere Beziehungen zu Elternhäusern und Schülern aufbauen, die dann auch überstehen, dass man sich mit solchen Sachen wie Mathe auseinandersetzen muss. Wenn ich mich grundsätzlich wohl fühle, trägt das auch dazu bei, mich mit Dingen auseinanderzusetzen, die mir nicht so gefallen. Deswegen glaube ich, dass eine frühzeitige Talenteinbindung das A und O ist.
Es gibt vielfältige Modellprojekte, es wird viel ausprobiert – was hilft das?
Wir brauchen einen Konsens darüber, wie wir Schule wollen und wie wir was verändern wollen – statt einer Empörung darüber, dass wir wieder bei Pisa einen Absturz hingelegt haben. Dazu müsste man analysieren, was in den letzten Jahren geschehen ist. Wir waren ja schon mal besser. Wir sind aber wieder auf reine Leistungsfokussierung verbunden mit dem Selektionsgedanken aufgesprungen. Dass wir gute Projekte brauchen, ist Konsens, aber wir brauchen auch einen Konsens, was wir mit diesen Projekten wollen. Ich habe aber eher den Eindruck: Wir wollen die Projekte, um zu sagen: Schau mal, ein gutes Projekt! Aber am Ende wollen wir am Status quo gar nichts ändern. Und das ist problematisch.
Wieviel hängt dabei an der Ministerialbürokratie?
Da bin ich ambivalent. Einerseits sind es die, die die Vorgaben machen. Andererseits erlebe ich, dass sie Vorgaben in einer Geschwindigkeit machen, wo normale Schulen sagen: Lass uns erst einmal in Ruhe arbeiten, damit wir was entwickeln können. Kaum haben wir eine Baustelle eingerichtet, kommt die nächste Anforderung, und es kann nie etwas richtig implementiert werden. Was ich vorhin zu Schülern gesagt habe, gilt ja auch für Schulen und Lehrer, dass die nämlich umso besser sind, je mehr sie ihre Fähigkeiten und Kompetenzen partizipativ einbringen können.
Was ist in diesem Zusammenhang von Studien wie Pisa zu halten?
Wir brauchen sicher Studien, weil aufgezeigt werden muss, was gerade passiert. Sonst würden wir nämlich immer noch denken, wir wären das Land der Dichter und Denker, obwohl wir zum Teil bereits abgehängt werden, ohne es zu merken. Hätten wir die erste Pisastudie nicht gehabt, hätte es zwanzig Jahre später ein böses Erwachen gegeben. Wir haben damals ja einiges umgesteuert. Ich halte empirische Bildungsforschung für unendlich wichtig. Aber: Wir sollten die Auswertung Menschen überlassen, die sich damit auskennen. Das Problem ist: Die Ergebnisse kommen quasi in Echtzeit in die Medien, werden ausgeschlachtet und in Talkshows mit fragwürdigen „Experten“ diskutiert, bevor jemand die Daten vernünftig verstanden hat. Was mich irritiert, ist: Es werden Menschen als „Experten“ zitiert, die würden in der Bildungsforschung niemals gefragt werden, mit dem Ergebnis: Egal welche Antwort ich haben will, werde ich jemand finden, der sie mir gibt, wenn ich ihm das Mikro vorhalte.
Die Standard-Reaktion nach jeder neuen Studie ist die Forderung nach mehr Geld. Ist das die Lösung?
Da würde ich einen deutschen Fußballmanager zitieren, der gesagt hat: Geld allein schießt keine Tore. Geld allein bildet auch keine Kinder. Wir brauchen Manpower und gute Konzepte. Im Moment ist des Deutschen Lieblingskind der Schulbegleiter. Das kann in vielen Fällen ein gutes Konzept sein. Aber wenn ich beispielsweise in eine Klasse komme, wo vier Schulbegleitungen und zwei Lehrer sind, dann frage ich mich, wie das ein Kind mit ADHS aushalten soll. Wir brauchen auch andere konzeptionelle Ansätze, die man nicht unbedingt über Geld regeln muss. Wir brauchen gut ausgebildete Manpower und gut gestaltete Konzepte, in der die Manpower auch wirksam werden kann. Ob das am Ende teurer wird? Vermutlich ja, aber ich glaube, im Moment verpulvern wir auch eine Menge Geld in Prozesse, die am Ende nichts bringen. Ich bin der Meinung: Erst Inhalte formulieren und dann sehen, was es kostet, anstatt erst Geld reinzuschießen und dann feststellen, dass es keine konzeptionellen Inhalte gibt.
Wie würde für Sie eine ideale Schule aussehen?
Meine ideale Schule wäre eine Schule, die aus sich heraus – vielleicht mit einem guten Coaching, das sie sich selber sucht – gute Konzepte entwickelt und Antworten auf die Fragen findet, die man im Alltag mit den Schülern sieht. Ich bin überzeugt: Die meisten Schulen in Deutschland würden gute Antworten finden.