Die Wahrscheinlichkeit von Stimmenzuwachs am rechten Rand ist hoch. Die Europäische Union erlebt jedoch nicht erst mit der kommenden Wahl einen Rechtsruck – er ist schon längst da.
Noch sind es einige Monate bis zur Wahl. Aber schon jetzt ist laut Umfragen klar, dass die beiden Fraktionen EKR und ID zusammen ein Viertel der Stimmen holen können. Rechtskonservative, Nationalisten, Identitäre und Rechtsextremisten haben europaweit Zulauf. Auch die Alternative für Deutschland, die schon heute Teil der ID-Fraktion ist. Ihr Programm zur Europawahl steht, AfD-Spitzenkandidat Maximilian Krah ist ebenfalls gekürt. Was aber hat die AfD auf der Brüsseler Bühne vor, welche Politik verfolgt sie?
Zurück in die 1950er-Jahre
Zunächst: Auflösen will die AfD die EU nicht, obwohl ein solcher Passus versehentlich in eine erste Version des Europawahlprogramms der Partei gerutscht sei, wie Parteichefin Alice Weidel sagte. Insgesamt münden die Forderungen und Vorschläge der AfD für Europa in eine Art Europäische Wirtschaftsgemeinschaft light – gemeinsame Institutionen finden keine Erwähnung mehr, und wenn, dann sollen sie aufgelöst werden, etwa das Europäische Parlament. Im Vordergrund stehen sollen Interessen, keine Werte; ein Binnenmarkt, aber keine Wirtschafts- und Währungsunion, der Euro wird abgeschafft, kurz: Europa soll keine politische Verantwortung mehr übernehmen, alles Politische verbliebe in den Nationalstaaten. Im Grunde eine Zeitreise zurück in die 1950er-Jahre, als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), ein Vorläufer der EU, existierte. Auch innereuropäische Grenzkontrollen wären wieder möglich, sollte ein Staat sie für richtig halten. Auch das nach den „Correctiv“-Recherchen viel zitierte Wort „Remigration“ wird übrigens in einem Passus des AfD-Europawahlprogramms erwähnt. Wissenschaftlich einst unbedenklich, wird dieses Wort im intellektuell frisierten Sprachgebrauch von Rechtsextremen mit neuer Bedeutung aufgeladen und bezeichnet dort nichts anderes als Deportationen. Die AfD weiß dies jedoch zu verklausulieren: Sie befürchte einen „Braindrain“ aus den Herkunftsländern und möchte daher Asylbewerber wieder zurückschicken, wenn es dort größtenteils „wieder sicher“ sei. Dass sich die Pläne, die durch die „Correctiv“-Recherchen öffentlich wurden, nicht in dem Programm wiederfinden, liegt daran, dass sie laut Grundgesetz verfassungswidrig sind.
Dies ist aber nur ein Teil der Forderungen, mit denen die AfD ihr Ergebnis bei den kommenden Europawahlen verdoppeln möchte, so Spitzenkandidat Maximilian Krah: von derzeit elf auf 22 Sitze. Krah, Jurist, ehemals CDU-Mitglied, ist seit 2019 Europaparlamentarier. Er gilt als Rechtsaußen in der Partei, publizierte sein politisches Manifest im Antaios-Verlag des Verleger Götz Kubitschek, einer intellektuellen Keimzelle der neuen Rechtsextremen in Deutschland. Für Krah ist die europäische Bürokratie ein Monstrum, das negative Folgen für Deutschland hat. Seiner Meinung nach formen Familie, Gemeinschaft und Volk die Identität, der liberale Staat dagegen nur das Individuum und eben nicht das Kollektiv der Gemeinschaft. Das wolle man ändern. Leisten könne dies nur ein homogener ethnischer Staat – die Anschlussstellen zu völkisch-rechtsextremistischen Ideen von Vertreibung und einem rein deutschen Ethnostaat sind deutlich sichtbar. Auf den übrigen Listenplätzen kandidieren beispielsweise Petr Bystron aus Bayern, der in seiner Bewerbungsrede auf „Globalisten“ und „Zwangsimpfungen“ schimpfte, Rene Aust aus Thüringen, der als enger Vertrauter von Björn Höcke und Fan von Viktor Orbán gilt, sowie Christine Anderson, die die Furcht vor einer „totalitären Herrschaft“ Brüssels über ein „Kollektiv entmündigter Menschen“ schürt. Mit Erfolg: Das derzeitige bundesdeutsche Umfragehoch der AfD mit Schwerpunkt in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt zahlt sich auch für die Europawahl aus.
Weiter Mehrheit für EVP und S&D
Der nach derzeitigen Umfragen deutliche Stimmengewinn vieler rechtsgerichteter Parteien in ganz Europa könnte den Fraktionen EKR und ID, den „Europäischen Konservativen Reformern“ sowie „Identität und Demokratie“, zu einem deutlichen Plus an Sitzen verhelfen. ID ist die Sammelfraktion im Europaparlament für all jene Parteien auf staatlicher Ebene, die rechtspopulistische und rechtsextremistische Strömungen befeuern. Zur ID mit aktuell 62 Abgeordneten gehören unter anderem Frankreichs Rassemblement National (RN), die italienische Lega, die österreichische FPÖ. In der 66 Abgeordnete starken EKR vertreten sind Rechtskonservative und Nationalisten: die polnische Ex-Regierungspartei PiS und der Koalitionspartner der Lega, die Fratelli d’Italia unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, sowie die spanische Vox. Eine Sonderrolle nimmt die ungarische Fidesz-Partei von Dauerregierungschef Viktor Orbán ein: Sie gehörte zur EVP, der Sammlung der europäischen konservativen Parteien, in der beispielsweise auch die CDU/CSU vertreten ist. 2021 verließ sie die Fraktion, bevor die EVP sie formell wegen des ständigen Streits um die Aushöhlung des ungarischen Rechtsstaates ausschließen konnte, und gilt derzeit als fraktionslos.
Der Unterschied zwischen beiden Fraktionen: das Maß an Radikalität. Laut Umfragen verzeichnen EKR und ID nun gleichermaßen Stimmenzuwächse. Der Blog des Politikwissenschaftlers Manuel Müller, „Der Föderalist“, sammelt europäische Wahlumfragen und projiziert sie in eine gesamteuropäische Wahlumfrage samt möglicher Sitzverteilungen im Parlament. Demnach hat die EVP gute Chancen, wieder stärkste Kraft im Europaparlament zu werden, gefolgt von den Sozialdemokraten (S&D). „Damit hätte eine potenzielle zweite Amtszeit von der Leyens als Kommissionspräsidentin, die sich auf diese beiden, vielleicht noch die Liberalen (ALDE) und die Grünen stützen könnte, eine solide Mehrheit“, sagt Müller. „Dennoch hätte diese große Koalition die schlechtesten Zahlen ihrer Geschichte“, denn der rechte Rand wächst, Profilkämpfe könnten zunehmen. So hatten die EVP und ihr Fraktionschef Manfred Weber (CSU) nicht immer mit dem linken Block gestimmt, unter anderem, als es um Teile des „EU Green Deal“ ging. Außerdem regte Weber an, die Fratelli d’Italia in die EVP aufzunehmen. Der CSU-Politiker hatte die rechtspopulistische Forza Italia des verstorbenen Silvio Berlusconi, nun Bestandteil von Melonis Rechtsaußen-Koalitionsregierung, im italienischen Wahlkampf unterstützt.
Medien berichteten bereits Anfang vergangenen Jahres darüber, dass Weber gut mit Giorgia Meloni auskomme. „Sie agiert auf europäischer Ebene vorsichtig“, so Müller, „vorsichtiger als Orbán, und bemerkt die Skepsis, die ihr entgegenschlägt. Ihre wahren Tendenzen aber werden sichtbar, wenn man sich die italienische Innenpolitik anschaut. Dort will Meloni die Macht ihres Amtes bereits ausweiten.“ Das Parlament braucht Fraktionen und Mehrheiten, um arbeiten zu können, auf europäischer Ebene geschieht dies häufig auch über Fraktionsgrenzen hinweg. Webers Suche nach neuen Mehrheiten ist Ausdruck einer gewissen „Groko-Müdigkeit“ – immerhin dominieren EVP und S&D seit Jahrzehnten die europäische Politik. Auch könnte dessen Fortsetzung den Einfluss der rechten Fraktionen weiterhin klein halten. Im Europäischen Rat läuft die Entscheidungsfindung jedoch anders. Hier, im Gremium der EU-Staats- und Regierungschefs, dominiert der Konsens. „Daher verschiebt sich dort die Politik eher nach rechts. Das erleben wir schon jetzt in der Migrationsfrage, im Erweiterungsprozess“, erklärt Müller.
Regierungen treiben Rechtsruck voran
Die Regierungen sind also treibende Kraft, wenn man von einem Rechtsruck in der EU ausgeht. Ungarns Fidesz-Partei hat bisher erfolgreich den Rechtsstaat und die Medien so umgebaut, dass sie und Viktor Orbán weiterhin an der Macht bleiben können – seit nunmehr 13 Jahren. In Schweden, derzeit unter Druck wegen ausufernder Gang-Kriminalität, kann die Regierung nur unter Duldung der rechtspopulistischen Schwedendemokraten regieren; in Finnland ist die Finnen-Partei an der Regierung beteiligt. In den Niederlanden hat Rechtspopulist Geert Wilders die Wahl gewonnen, jedoch noch keine Regierungsmacht; in Italien regiert eine Postfaschistin mit Rechtsnationalisten. In Österreich führt die rechtsextreme FPÖ sämtliche Umfragen zur diesjährigen Nationalratswahl an, in Frankreich Marine Le Pens rechtsextremer RN. Nur Spaniens Wählerschaft hatte die rechtspopulistische Vox in den vergangenen Wahlen massiv abgestraft, vermutlich, weil sie noch in den Kinderschuhen steckt und daher laut und radikal agitiert. Vox lässt noch jenen gemäßigt bürgerlichen Anstrich vermissen, der ihre Wählbarkeit erhöhen würde, eine Strategie, wie sie die meisten übrigen Rechtsaußenparteien der EU derzeit verfolgen. Dennoch bleibt sie mit derzeit vier Abgeordneten im Europäischen Parlament vertreten.
Gründe für den starken Fokus auf Rechtsaußen-Parteien liegen in wachsenden Unsicherheiten, etwa im Zusammenhang mit Inflation, den Kriegen in der Ukraine und in Israel, der Bedrohung der Schifffahrt im Roten Meer; die Armutsgefährdung in Deutschland ist hoch, die Quote der Armut in Deutschland doppelt so hoch wie 2021, hat das Statistische Bundesamt ermittelt. Hinzu kommen die Debatten innerhalb der Ampelregierung, kontroverse Entscheidungen trotz vielfacher Krisen, die unter anderem zu den Protesten der Landwirtschaft und der Transportwirtschaft führten.
Deshalb steigen die Umfragewerte extremer Parteien, auch zur Europawahl. Ihr Einfluss auf europäische Politik wächst. Die wahre Gefahr aber geht von extremistischen Parteien aus, die bereits in Regierungsverantwortung stehen. Sie können das Gesicht Europas auf Jahrzehnte hinaus verändern.