Moderner Jazz ist frech und speziell. Nicht immer findet das Publikum sofort Zugang zu der musikalischen Interpretation junger Künstler. Aus diesem Grund inszeniert der Jazz-Experte und langjährige SR-Redakteur Dr. Peter Kleiß die Reihe „Jazz & Talk" in Illingen.
Leise, zarte Töne umfangen die Gäste im Illinger Rathaus. Natalia Mateo singt. Die Jazzmusikerin scheint all ihre Gefühle in die Lieder zu legen. Es wirke, als lasse sie tief in ihre Seele blicken, und genau dort berührt sie auch. Hinzukommen ungewöhnliche Töne der Instrumentalisten. So mancher Zuhörer scheint überrascht.
Mit dem Ursprung der Musikrichtung Modern Jazz zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den Südstaaten hat diese Darbietung akustisch wenig gemeinsam. Damals war Jazz vor allem die Musik von Afroamerikanern. Was junge Musiker heute darunter verstehen, lässt sich kaum noch mit dem klassisch-traditionellen Jazz verbinden. Sie erweitern den Modern Jazz durch ein buntes Potpourri an Einflüssen. Auf der Suche nach sich selbst und dem eigenen Stil, probieren und improvisieren junge Künstler sehr frei und bedienen sich dabei aller erdenklichen musikalischen Mittel. Nicht immer hat das Publikum Verständnis für die häufig speziellen Darbietungsformen.
Einen Grund darüber zu reden, findet der renommierte Jazz-Experte und pensionierte Jazz-Redakteur des Saarländischen Rundfunks, Dr. Peter Kleiß. Er hat in seinem Heimatort im Rahmen der von seiner Frau Elfi geleiteten „Illinger Jazz Lounge" die neue Reihe „Jazz & Talk" inszeniert. „Junge Jazz-Musiker akzeptieren überhaupt keine musikalischen Grenzen. Zu Strukturen wie Jazz, Klassik, Pop sagen die nur: Wofür und für wen sollen solche Grenzen gut sein? Für uns nicht! Und so machen sie einfach ihr Ding. Das ist sehr persönlich, frech, experimentell", sagt der 67-Jährige.
Aufstrebende Jazzmusiker werden nach Illingen eingeladen, um ein Konzert zu geben. Nach den ersten paar Liedern bittet Kleiß sie zum Gespräch, stellt persönliche Fragen, versucht dem Publikum den Künstler und seine Musik verständlicher zu machen. „Manchmal ist das Publikum gerade bei jungen Musikern brüskiert. Die Musik ist ungewöhnlich, sehr individuell und eben: jung und frisch. Was kann man mit der Musik anfangen?", fragt Peter Kleiß und erklärt seine Beweggründe: „Ältere nehmen eher schon mal bekannte Melodien aus der Jazz- oder Pop-Geschichte hinzu.
„Musik geht in die Gefühle rein"
Die ganz Jungen haben die Erfahrung, wie man auf das Publikum zugeht noch nicht. Sie kommen von der Hochschule und wollen endlich ihr eigenes Ding machen und sonst nichts. Wenn du im Konzert sitzt, kann es passieren – wenn du nicht wirklich im Jazz drin bist – dass du dich alleinegelassen fühlst. Wo bin ich hier? Was sind das für Klänge? Musik geht ja in die Gefühle rein. Es ist total speziell. Vielleicht werden Gefühle angesprochen, die du noch gar nicht kanntest. Was passiert da mit mir?" Hier setzt Kleiß in seiner Talk-Reihe an.
Zur Auftaktveranstaltung im September kam die Echo-Newcomerin Natalie Mateo –begleitet von Dany Ahmed an der Gitarre und Simon Grote am Piano – ins Illinger Rathaus. Ihr Stil war sehr geheimnisvoll und tiefgründig. Kleiß: „Das zweite Lied, das sie vorgetragen hat, hat sie aus der Stille entwickelt. Da fuhr ein Auto draußen vorbei. Sie hat das Geräusch aufgegriffen und hat aus dieser konkreten Klangerfahrung und aus der Stille, ein ganz zartes, zerbrechliches Lied angeregt. Für mich persönlich hatte das was mit dem Gefühl von einsam und verloren sein zu tun, aber auch damit wie sie zurechtkommt. Das Lied hat ja eine Form bekommen. Also hat sie ihrer Einsamkeit eine Form gegeben und sie damit für andere nachvollziehbar gemacht. Sie hat auch auf Polnisch gesungen, also habe ich den Text ja noch nicht mal verstanden. Deswegen dachte ich, ich könnte hierzu Fragen stellen, beispielsweise", erklärt er den Ablauf einer Talk-Reihe.
Zur Vorbereitung auf die Interviews höre er die Alben rauf und runter, sammelt Informationen über die Künstler, aber wenn er auf die Bühne geht, vergisst er das alles und fragt das, was ihm gerade auf der Zunge liegt: „Ich mache ja keine Hochschulsachen. Ich gehe davon aus, dass die Leute, die solche Musik hören, selber eine Verbindung schaffen können zwischen dem, was sie hören und was die Musiker aus ihrem Leben dazu erzählen", berichtet der Jazz-Redakteur, „mein Eindruck ist auch, dass die Künstler befreit sind, wenn sie über ihre Musik reden dürfen."
Das zweite Konzert von „Jazz & Talk" findet im Dezember mit dem Dou Frederik Köster und Sebastian Sternal statt. Frederic Köster spielt Trompete und Flügelhorn, Sebastian Sternal Piano. Ihr aktuelles Album heißt „Canada" und wurde auch dort aufgenommen. Für dieses Album hat Köster als Instrumentalist den Jazz-Echo 2017 erhalten. Integriert in das Konzert der beiden Musiker ist das Gespräch mit Peter Kleiß. Die Musiker werden über ihr Leben, ihre Arbeit und darüber, was Tagtraum und Jazz miteinander zu tun haben, erzählen. Ihr oft lyrisches, zuweilen auch energiegeladenes Zusammenspiel ist unverkennbar vom Aufnahmeort inspiriert: Lethbridge, Provinz Alberta, Kanada.
Als weitere Gäste der Reihe sind geladen Clara Haberkamp (Klavier, Gesang), Anna-Lena Schnabel (Saxophon, Flöte), Lisa Wulff (Kontrabass, e-Bass, Gesang), allesamt noch in den Zwanzigern aber mit enormem musikalischen Talent sowie aus Finnland Tuomas A. Turunen (Piano).
Der Rahmen der Veranstaltung ist durch die Nähe zwischen Publikum und Künstler im Trauzimmer des Illinger Rathauses sehr intim. „Je mehr die Möglichkeiten wachsen, sich digital miteinander zu vernetzen desto größer wird das Bedürfnis sich wieder real zu sehen. Oft fehlen dazu die Gelegenheiten. Die möchte ich geben. Vor diesem Hintergrund wähle ich solche Künstler aus, die dem Publikum was zum drüber Reden geben, für dein Herz, für deinen Verstand."
Peter Kleiß spielt selbst Saxophon, war in den 60er-Jahren als einziger Weißer Mitglied einer sonst afroamerikanischen Band. Erfreut stellt er viele Unterschiede zur modernen Jazz-Szene und seiner Zeit fest: „Ich bin vier Jahre nach Ende des Krieges im hessischen Dillenburg geboren. Die Faschisten hatten alles ermordet, das in ihren Augen irgendwie anders war. Es gab keine Juden, keine Sinti und Roma, keine Lesben, keine Schwulen, keine Kommunisten. Nichts. Ich bin aufgewachsen und dachte alles ist so seltsam." Zwischen seinem Geburtsort und Frankfurt gab es jede Menge amerikanische Kasernen. Unter den afroamerikanischen Soldaten schlossen sich einige zu einer Soulband zusammen.
Das Jazz-Publikum wird jünger
Peter Kleiß stieg als Saxophonist in den Bläsersatz ein. „Ich wusste, dass ich anders bin. Mit den Jungs aus der Band habe ich viel darüber geredet, warum wir aber gemeinsam grooven", erinnert er sich. „Heute haben wir eine freiere Gesellschaft. Den jungen Leuten fällt es gottseidank leichter, so zu sein oder zu werden, wie sie wirklich sind. Deshalb ist auch die Musik sehr viel offener, verspielter. Ich habe den Eindruck, dass gerade in der Jazz-Community eine riesige Toleranz herrscht. Der Mut anders zu sein, ist bei den Jungen viel größer als bei mir damals. Und sie werden in ihrem Anderssein akzeptiert."
Doch sorgen junge Musiker in der Szene auch für ein jüngeres Publikum? „Lange hatte das Publikum eher meine Haarfarbe. Es gab eine große Divergenz zwischen den jungen Musikern und den alten Leuten im Publikum. Das dreht sich gerade um. In Berlin, Frankfurt, München und Bremen sitzen ganz junge Leute und hören Jazz", beobachtet Kleiß. „Jazz ist so eine lebendige Musik. Wer sich ähnlich fühlt, wie ich damals, also irgendwie anders, und sich nicht traut dazu zu stehen, dem kann die Erfahrung mit Jazz-Musikern, sowohl im Konzert als auch durch den Talk, helfen, Mut zu bekommen, so zu sein oder so zu werden wie er ist."