Barbara Jungnickel ist in Hellersdorf bekannt. Seit drei Jahren zieht die 54-Jährige ihren kleinen Wagen durch die Straßen und bringt Menschen bei Kaffee und Kuchen und vor allem zum Gespräch zusammen.
Passanten, die an diesem Freitagnachmittag aus dem U-Bahnhof Cottbusser Platz in Hellersdorf kommen, halten kurz inne und steuern dann geradewegs auf einen Tisch mit fröhlich plaudernder Runde zu. Ganz am Rande sitzt eine Frau und lächelt still. Aber nun muss sie schon wieder Hände schütteln. „Herzlichen Glückwunsch!“ Einige der Gratulanten setzen sich dazu, andere eilen weiter. Keinen wundert’s, dass da auf dem Weg eine Kaffeetafel steht. Warum auch: Barbara Jungnickel, die Frau, die dauernd Hände schütteln muss, ist hier bekannt, genauso wie ihr orangefarbenes Wägelchen mit der Aufschrift „Café auf Rädern“. Das feiert an diesem Tag sein dreijähriges Bestehen. Gerade ist sie zurück von einer Tour durch den Bezirk, um andere für die Idee zu gewinnen. In Marzahn Nord hatte sie Erfolg, dort wird eine Rikscha umgebaut. Auf der IGA fragten Leute aus Magdeburg, ob sie die Idee kopieren dürften. Natürlich dürfen sie. Auch Barbara Jungnickel hat sich inspirieren lassen, von einer Kirchengemeinde in Köln. Die aber wollten missionieren. Das will sie nicht, obwohl sie in der evangelischen Kirchengemeinde Hellersdorf aktiv ist als Vorsitzende des Gemeindekirchenrates. Es sollte einfach nur ein Gesprächsangebot sein. „Wir überlegten, wie wir das machen. Da habe ich gesagt, Quatsch, ich packe jetzt Klappstühle, Tisch, Kannen und Tassen in den Bollerwagen und gehe los.“ Anfangs hatte sie etwas Bauchschmerzen, die Leute einfach anzusprechen. Wie würden sie reagieren? Alle waren freundlich, auch wenn sie sagen: „Ich habe keine Zeit.“
Am Bahnhof ist ihr Lieblingsplatz
Carsten Unbehaun, Prädikant in der Kirchengemeinde, kennt Barbara Jungnickel seit acht Jahren. Als die Idee entstand, gab es viele Ressentiments gegen Ausländer. Das Café sollte eine Möglichkeit sein, ins Gespräch zu kommen, miteinander, nicht gegeneinander. Als eine Finanzierungszusage kam, musste es plötzlich schnell gehen. Wer soll es machen? Barbara Jungnickel steckte gerade mitten im Prüfungsstress während ihrer Ausbildung als Gemeindepädagogin. Vorsichtig fragte Carsten Unbehaun an und prompt kam die Antwort: „Ja, das probier ich mal.“ Für ihn ist sie ein Naturtalent, wie sie auf die Menschen zugeht, das kann man nicht lernen.
Eine ältere Dame mit Einkaufstasche kommt an den Tisch: „Ich habe in der Zeitung gelesen, Sie haben Geburtstag“, sagt sie mit russischem Akzent und lässt sich zu einer Tasse Kaffee und Apfelkuchen überreden. Die Runde rutscht zusammen. Gerade geht es ums Wetter. Sonne sei ihr zwar lieber, aber bei Regen zieht sie mit ihrem Wagen eben in den Fußgängertunnel, meint Barbara Jungnickel. Am Bahnhof ist ihr Lieblingsplatz, da kommen viele Leute vorbei und setzen sich zu ihr. Die meisten sind „Generation 50plus“, aber auch viele Kinder. Die Themen sind so unterschiedlich wie die Menschen: Meist beginnt es mit Small Talk über das Wetter, dann ist das Fernsehprogramm vom Vortag dran, die Straßenlaterne, die nicht brennt oder der Ärger mit den Nachbarn oder auch Politik. „Ich merke, wenn bestimmte Themen durch die Presse gehen. Als das die Flüchtlinge waren, wurde viel darüber gesprochen, jetzt sind es natürlich die Wahlen.“
Ein paar hundert Meter weiter befindet sich das Flüchtlingsheim, das vor vier Jahren große mediale Aufmerksamkeit erregte. Demos gibt es nicht mehr, jetzt werden gemeinsam Feste gefeiert, ganz problemlos ist das Zusammenleben aber trotzdem nicht. „Ich würde nie einen Menschen verurteilen, wenn er auf Flüchtlinge schimpft. Ich höre zu und sage: Okay, ich akzeptiere ihre Meinung, ich denke aber anders darüber. Ich möchte die Menschen nicht belehren, aber sie zum Nachdenken bringen.“
Barbara Jungnickel bleibt ruhig, auch wenn alle laut durcheinander reden. Sie hört zu und klinkt sich dann in das Gespräch ein. Gerade geht es um Kinderspielplätze im Bezirk. So locker ist das nicht immer, manche Gespräche gehen ihr richtig an die Nieren. „Eine alte Dame hat mir mal aus ihrem Leben erzählt, mit Missbrauch, Alkohol und Gewalt. Danach war ich total erledigt und habe alles zusammengepackt, ich hätte mich nicht mehr locker unterhalten können. Das sind so Sachen, die einen nicht kalt lassen.“ Vielleicht ist es ihre freundliche, zugewandte Art, wie sie die Menschen an den Tisch bittet, das ehrliche Interesse an dem, was sie erzählen, das stellt Vertrauen her. Sie hat sogar einige „Stammkunden“, die immer wieder vorbeischauen. „Die meisten wissen, dass ich von der Kirchengemeinde bin, obwohl es nicht am Wagen steht. Viele sagen, schön, dass die Kirche so etwas macht, andere meinen, die Kirche ist ja schließlich dafür da. Ich wurde auch schon gefragt, ob ich den Auftrag habe, die Kirchenbänke vollzumachen. Da muss ich immer lachen. Nee, das ist überhaupt nicht mein Anliegen. Ich bin Christin und stehe dazu, aber es ist nicht meine Art, Menschen zu überzeugen.“
Barbara Jungnickel ist 1963 in einem kleinen Dorf bei Seelow geboren. 1979 kam sie nach Berlin, um eine Ausbildung als Krankenschwester zu machen. „Für mich immer der Traumberuf, ich wollte gern für andere Menschen da sein.“ Sie blieb, arbeitete zehn Jahre als stellvertretende Stationsschwester, lernte ihren Mann kennen und bekam drei Kinder. „Dann habe ich eine sehr lange Familienpause gemacht für die Kinder. Etwas ungewöhnlich als DDR-Frau, ich bin da auf viel Unverständnis gestoßen. Gib doch die Kinder in den Kindergarten, hieß es. Unsere Kinder waren im Kindergarten. Aber wir arbeiteten beide im Dreischichtsystem, wir hätten uns kaum noch gesehen. Das war es mir nicht wert.“ Danach ist sie noch mal in ihren Beruf zurückgekehrt, betreute einen Schlaganfallpatienten zu Hause. Da kam das Angebot für eine Ausbildung als Gemeindepädagogin für die Kirchengemeinde. Sie kümmert sich jetzt in erster Linie um Kinder. Bis Ende des Jahres finanziert ihr die Volkssolidarität auch das „Café auf Rädern“. Die Zukunft ist noch ungewiss. Vielleicht macht sie ehrenamtlich weiter, so wie am Anfang auch, bevor es einen Zuschuss gab aus dem Programm „Demokratie leben!“. Natürlich bekommt sie Unterstützung von der Gemeinde, Kuchen und Kaffee werden davon finanziert. Gerne hätte Barbara Jungnickel einige Mitstreiter, die mal mit dem Wagen losziehen. Einige haben es versucht und dann dankend abgelehnt. „Man muss sich selbst zurücknehmen und auch viel aushalten können.“
Sie sagt über sich selbst, sie sei Einzelkämpferin. Und da kann es eben mal vorkommen, dass sie mehr als die üblichen zwei Stunden sitzt und zuhört, weil keiner gehen will und sie keinen wegschicken möchte. „Aber zum Glück wohne ich ja in der Nähe.“ Man kennt sie inzwischen im Kiez und so wird sie schon mal an der Supermarktkasse angesprochen. Es klingt auch ein wenig Stolz mit, als sie sagt: „Die Leute sehen, das ist eine von uns, die weiß, wie wir hier leben, mit der können wir darüber reden, die versteht das.“
Inzwischen hat sich die Runde neu sortiert. Einige haben sich verabschiedet, andere sind dazu gekommen, der Abgeordnete aus dem Wahlkreis, zwei Mitarbeiter aus dem benachbarten Quartiersmanagement und der Rentner, der demnächst nach Bali auswandert.
„So jemanden wie sie brauchen wir hier“
Die Quartiersmanagerin Lisa Weiß arbeitet seit 2016 im Kiez rund um den Boulevard Kastanienallee. „Eines Tages stand sie mit ihrem Wagen in unserem Büro und stellte sich vor“, erinnert sie sich. „Ich hatte schon von ihr gehört, hier kennen sie viele.“ Barbara Jungnickel erzählte von ihrer Idee, das Café auch über den Winter anzubieten. Die ansässige Wohnungsgesellschaft stellte einen Raum zur Verfügung, das Quartiersmanagement finanzierte die Betriebskosten und Werbeflyer. Und so saßen im Advent in einem Laden auf dem Boulevard Menschen bei Kerzenschein und Pfefferkuchen einträchtig zusammen. Keine Veranstaltung im Quartier ohne Barbara Jungnickel. „Sie ist so etwas wie die treue Seele im Kiez“, sagt Lisa Weiß, „dazu sehr offen für neue Ideen, zuverlässig und absolut herzlich. So jemanden wie sie brauchen wir hier.“ Barbara Jungnickel lächelt still, schenkt Kaffee ein, schneidet Kuchen auf und hört zu.