Auf der Piazza lange plauschen, in der Bar leckeres Gelato schlecken und von Mama bekocht werden: Träumen wir nicht alle davon, mal richtig einzutauchen in ein uriges Dörfchen in Italien? So geht’s!
Meine italienische Wahl-Oma – meine Nonna – finde ich gleich am ersten Abend: Es ist die 82-jährige Adelina, die so funkelnde braune Augen und hübsche schneeweiße Löckchen hat – für mich quasi Amore auf den ersten Blick. Ich treffe sie in meiner Unterkunft, der Locanda Incantata, einem wunderschönen B&B, das von Alessia und Massimo geführt wird. „Ciao, Alexa, du kommst gerade rechtzeitig zum Pastamachen", grüßt mich Alessia voller Herzlichkeit, und ich merke sofort: Diese Reise wird anders! Und so ist es auch gedacht, denn schließlich gehört das malerische Scurcola Marsicana in den Abruzzen zur Vereinigung der Borghi Autentici d’Italia, also den authentischen Dörfern Italiens. Wer hier Urlaub macht, der wird unweigerlich zu einem Teil der Dorfgemeinschaft, so das Konzept. Deshalb heißt es auch gleich Ärmel hochkrempeln und ran an den Teig – im wahrsten Sinne des Wortes. Alessias Tante Berardine und meine bezaubernde Adelina – Alessias Nachbarin – wollen mir zeigen, wie echte Fettucine gemacht werden. Dazu nehme man Mehl, Ei und ein bisschen Wasser. „Feste, feste, mit beiden Händen!", ruft mir Berardine aufmunternd zu, während ich zum ersten Mal im Leben selber Pastateig knete. Derweil entbrennt zwischen den beiden italienischen Nudel-Expertinnen eine heftige Diskussion. Darf man den Teig mit einer Nudelmaschine ausrollen oder muss das per Hand geschehen? „Mein Neffe hat mir mal so ein elektrisches Ding geschenkt, aber ich rolle den Teig immer über einem Stock aus. Dann klebt die Pasta nicht so", schwört Adelina und verrät weiter: „Das Kochen habe ich als Kind von meiner Mutter gelernt. Pasta gab es aber immer nur sonntags, weil das so viel Arbeit ist und da die ganze Familie zusammenkommt." Ein gutes Stichwort. Heute ist zwar nicht Sonntag, dennoch findet sich
kurz darauf die halbe Sippe ein – erst Guglielmo, Berardines Sohn, der in Rom Geschichte studiert, dann Massimo, der schnell noch für die Pasta wilden Spargel gepflückt hat, und schließlich Carla, eine Freundin von Alessia. Flugs ist der Tisch gedeckt, und es wird richtig aufgefahren – Bruschetta, Bohnen, Pasta, Käse, Salami, Brot, Kuchen, Gebäck und Vino. Wie hat Jan Weiler in seinem Bestseller „Maria, ihm schmeckt’s nicht" so schön geschrieben? Es sei ein Wunder, dass das Volk der Italiener noch nicht geplatzt sei. Wohl wahr, mit vollem Bauch sinke ich an diesem Abend ins Bett und schlafe den Schlaf der Überfütterten. Buona notte!
Von 800 Häusern sind nur 100 bewohnt
Am nächsten Morgen wartet Valerio Marocchi bereits auf mich. Er ist der sogenannte Dorfengel, dessen Aufgabe darin
besteht, Urlauber auf einem Rundgang durch das Dorf zu begleiten und sie mit den Bewohnern bekannt zu machen. Der 27-Jährige studiert Naturwissenschaften, produziert selbst Honig, träumt von einem eigenen kleinen Selbstversorger-Bauernhof und wohnt im alten Ortskern von Scurcola. Und der sieht aus wie gemalt. Enge, windschiefe Gassen schlängeln sich immer höher den Berg hinauf. An den betagten Häusern und noblen Palazzi nagt der Zahn der Zeit, und so entblößt die strahlend helle Frühlingssonne die verträumte Patina einer vergangenen Epoche. Der mächtige Palazzo Orsini aus dem 13. Jahrhundert etwa verfällt in schleichender, einsamer Grandezza. Still ist es hier oben. Merkwürdig leer. Wo sind die Menschen? „Von den 800 Häusern im alten Kern des Dorfes sind nur etwa 100 bewohnt", erklärt Valerio. „Den meisten ist es zu mühsam, hier täglich Einkäufe hinaufzuschleppen."
Deshalb spielt sich das Leben eher im unteren Teil des Dorfes ab. Nur vage habe ich noch die Schwarz-Weiß-Bilder der Don-Camillo-und-Peppone-Filme im Kopf. Die hätte man auch in Scurcola drehen können. Der kleine Ort ist ein italienisches Bilderbuchdorf. Gefühlt hängt mindestens vor jedem zweiten Haus ein buntes Sammelsurium an Wäsche zum Trocknen in der Sonne. Für die 2.500 Einwohner gibt es stattliche sieben Kirchen, deren Hausherr natürlich der Pfarrer ist. Don Nuntio begegnen wir auf der großen Piazza Risorgimento, der Schlagader des Dorfes. „Ach, selbst im katholischen Italien gehen nur noch ungefähr 20 Prozent der Bevölkerung in die Messe", klagt der Geistliche sein Leid und eilt alsbald von dannen, weil er noch eine Beerdigung vorbereiten muss. Derweil wenden wir uns profaneren Dingen zu und kehren in die örtliche Metzgerei ein. Schließlich dreht sich in Italien fast alles ums Essen. Wie ich da die Salamis verführerisch von der Decke baumeln sehe, bekomme ich auch prompt Appetit. „Magst du mal probieren?", fragt mich Metzger Ugolino mit breitem Lächeln und schneidet gleich ein Stückchen ab. Lecker! Das Fleisch bekommt er von Bauern aus der Gegend. Bauern wie Giuliano. Den Schäfer treffen wir am Fuße des Dorfes bei seiner Herde auf der Weide. Von hier hat man einen traumhaften Blick auf Scurcola, das sich vor einer hohen Bergkette mit schneebedeckten Gipfeln postkarten-perfekt abhebt. Schnell kosten wir Giulianos Ricottakäse, der so schön cremig ist, dann ziehen wir weiter.
Fünf Bars gibt es im Ort. Eine davon sollte mindestens zweimal am Tag aufgesucht werden – mittags auf einen Espresso, abends auf einen Aperitivo. Bei Emiliana und Gian Luigi in der Bar La Venere gleich gegenüber der großen Piazza wartet bereits Bürgermeister Vincenzo, ein Bär von einem Mann, auf uns. Sofort gibt er ein Glas Prosecco aus. Während ich mich in der Bar umschaue, stelle ich fest, dass außer mir nur Männer da sind. Wo stecken die Frauen? „Die kochen gerade das Abendessen", gibt Vincenzo völlig unbekümmert darüber, ob das chauvinistisch wirken könnte, zu – und schleppt mich danach zu seiner Tante Ilde, die bereits den Tisch gedeckt hat. Wieder einmal erlebe ich nun, was italienische Gastfreundschaft bedeutet … und was ein Magen hier zu leisten hat. Nach Spaghettini in brodo folgen Salsiccia, pikante Würste mit Bohnen, dann gebackene Kartoffeln und schließlich Pizza di pasqua, ein riesiger Kuchen mit viel Orangeat, wie er zur Osterzeit üblich ist.
Zum Abschied gibt es noch einen Likör
Als der serviert wird, hat Cousine Angela bereits die Fotoalben herausgeholt und zeigt mir begeistert Bilder von den Osterprozessionen im Ort und von dem kleinen Vincenzo im weißen Kapuzenmantel. Der große Vincenzo wird darüber ein kleines bisschen rot. Wie süß. Auch an diesem Abend falle ich natürlich wohlgenährt ins Bett und bedaure am nächsten Morgen, dass ich nicht mehr Zeit habe. In Scurcola könnte ich noch eine ganze Weile bleiben. Doch jetzt muss ich mich erst mal von all den liebenswerten Menschen verabschieden, die ich hier kennengelernt habe – allen voran meiner Wahl-Nonna Adelina. Sofort drängt mich die alte Dame in ihr kleines Häuschen und besteht darauf, dass ich noch einen Likör mit ihr trinke. „Komm bald wieder", gibt sie mir auf den Weg. Das mache ich bestimmt.