Zehn bis fünfzehn Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Hormonstörungen. Die Diagnose ist auch für Experten nicht immer leicht. Wie kommt man ihnen auf die Schliche und vor allem: Was hilft dagegen?
Thomas Huber (Name von der Redaktion geändert) schläft schlecht. Selten mehr als vier Stunden pro Nacht. Immerzu ist er müde, seine Haare fallen ihm aus, und Frauen lernt er gar nicht mehr kennen. Denn nach einigen Treffen steht er immer wieder vor demselben Problem: Er will nicht mit ihnen schlafen, er hat keine Lust. Thomas geht zum Hausarzt, der ihm sagt, die Symptome könnten mit seinen Hormonen zusammenhängen. Ein durcheinandergeratener Haushalt.
Insgesamt zehn bis fünfzehn Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Hormonstörungen. Die Botenstoffe des Körpers bestimmen unser Leben. Kommt dieses komplexe Gefüge aus dem Takt, kann das gravierende Folgen haben. Am häufigsten suchen Patienten mit Diabetes oder Schilddrüsenproblemen einen Arzt auf. Aber auch Menschen, die einen Tumor an einem hormonproduzierenden Organ wie der Nebenniere, der Schilddrüse oder der Hirnanhangsdrüse haben. Die Störungen und Krankheitsbilder, die aus einem durcheinandergeratenen Hormonhaushalt resultieren, sind jedoch so zahlreich und komplex wie das hormonelle System selbst.
1902 haben die englischen Physiologen Ernest Henry Starling und William Madock Bayliss entdeckt, dass der Mensch endokrine Drüsen besitzt, die Hormone produzieren. Bereits ein Jahr zuvor gelang es dem japanisch-amerikanischen Chemiker Jokichi Takamine, aus der Nebenniere Adrenalin zu gewinnen und seine Struktur zu bestimmen. Es folgten die Entdeckung des Schilddrüsenhormons Thyroxin, des Insulins, der Geschlechtshormone, des Cortisons und vielen weiteren.
Botenstoffe regeln das Leben
Mittlerweile sind etwa 100 Hormone bekannt. Forscher vermuten jedoch, dass mindestens 1.000 dieser Stoffe im menschlichen Körper existieren und am Werk sind. Ihr Einfluss wirkt sich ganz unterschiedlich aus. Sie steuern wichtige Körperfunktionen wie Herz, Kreislauf, Verdauung, Körpertemperatur und Gehirntätigkeit und regulieren die Geschwindigkeit des Stoffwechsels.
Die Wissenschaft, die sich mit den Hormonen befasst, nennt sich Endokrinologie. Die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie erklärt: „Endokrinologie ist die Lehre von den Hormonen, vom Stoffwechsel und den Erkrankungen auf diesem Gebiet. Hormone werden von endokrinen Drüsen, zum Beispiel Schilddrüse oder Hirnanhangdrüse, aber auch bestimmten Zellen in Hoden und Eierstöcken, endokrin ausgeschüttet, das heißt, nach innen in das Blut abgegeben. Im Unterschied dazu geben exokrine Drüsen, wie Speichel- oder Schweißdrüsen, ihre Sekrete nach außen ab".
Wer den Verdacht hat, sein Hormonhaushalt sei aus den Fugen geraten, sucht am besten einen Fachmann auf. Hormonellen Störungen auf die Schliche zu kommen, gestaltet sich jedoch oft nicht einfach. Zudem unterscheiden sich Ansätze in Diagnostik und Therapie deutlich.
„Die Diagnostikverfahren sind immer verschieden. Manches lässt sich gut mittels Speicheltest ermitteln, anderes gelangt gar nicht erst in den Speichel, das heißt, man kann es auch nicht nachweisen. Bei den anderen Dingen nutzt man in der Regel Blut- oder auch Urintests", erklärt Dr. Martin Merkel, ärztlicher Leiter des Endokrinologikums Hamburg. Auch das Spritzen von Hormonen ist bei ihm eine Option der Diagnostik: „Wir arbeiten stufenweise. Wir messen zunächst das Hormon mittels Speichel, Blut oder Urin. Manchmal gibt es aber Situationen, bei denen man sehen möchte, wie es funktioniert – etwa beim Cortisol der Nebennieren. Das hat normalerweise einen bestimmten Wert und schwankt stark über den Tag verteilt. Nun will ich wissen, ob für Stresszeiten auch genügend Cortisol vorhanden ist. Dann spritze ich erst ein anderes Hormon, das die Cortisolausschüttung im Körper anregt und daran kann ich erkennen, wie gut die Cortisolproduktion funktioniert. Das ist ein typisches endokrinologisches Untersuchungsverfahren."
Günther Heepen, Heilpraktiker und Autor des Buches „Hormone natürlich regulieren" hingegen schwört, wie viele seiner Kollegen, einzig und allein auf den Speicheltest. „Im Speichel werden die aktiven, also die freien Hormone gemessen. Im Blut werden die nicht aktiven und aktiven Steroidhormone gemessen. Der Speicheltest zeigt mir: Wie sieht es mit den aktiven Hormonen aus? Sind zu viele oder zu wenige da, wo muss man therapeutisch eingreifen?" Eine Methode, die umstritten ist. Die größte endokrinologische Gesellschaft, The Endocrine Society, rät ab: „Es gibt keine publizierten Studien in seriösen Fachzeitschriften, die zeigen, dass Hormonspeicheltests eine sichere Grundlage für eine effektive Ersatztherapie bieten", warnen die Fachärzte in einem Statement. Auch Dr. Merkel sieht kaum sinnvolle Einsatzmöglichkeiten: „Einige Speicheltests, zum Beispiel für Cortisol, sind sehr gut validiert. Bei denen stimmen die Werte auch. Allerdings gibt es jede Menge Speicheltests, bei denen die Messverfahren nicht validiert sind, die sind also von begrenztem Wert. Teilweise werden sie für die Patienten kostenpflichtig angeboten, und da muss man natürlich fragen, ob das richtig ist." Teuer sind sie also auch, mit mehreren Hundert Euro muss der Patient nicht selten rechnen – und das aus der eigenen Tasche. „Unsere Patienten kommen manchmal mit einer Vielzahl an gemessenen Werten und haben dafür viel Geld bezahlt. Man muss sich die Frage stellen: Gibt es überhaupt eine Indikation für diesen Test? Denn wenn es die gibt, wird der Test auch von der Krankenkasse übernommen. Ich rate grundsätzlich von kostenpflichtigen Speicheltests bei Heilpraktikern ab. Aber das ist auch logisch, dass ich als Schulmediziner das infrage stelle", sagt Merkel weiter.
Speichel-, Blut- und Urintests
Davon lässt sich Heilpraktiker Günter Heepen jedoch nicht beirren: „Ich halte am Speicheltest fest, weil ich anfangs bei Patienten auch Bluttests gemacht habe, und in 99 Prozent der Fälle waren diese in Ordnung. Die Patienten hatten aber dennoch Beschwerden, die auf Hormonstörungen hindeuteten." Warum man das dann nicht nachweisen könne, verstehe er nicht. Sein Ansatz ist aber auch ein anderer: „Das kann ich nicht erklären. Vielleicht sind zu wenige Untersuchungen gemacht worden. Aber für mich ist wichtig, was der Patient fühlt – nach der Therapie und vor der Therapie. Und wenn ich weiß, dass der Speicheltest mir Aussagen liefern kann, auf deren Basis es dem Patienten besser geht, ist es auch nicht so wichtig, ob es wissenschaftliche Belege gibt, die dem zustimmen oder nicht."
In der Diagnostik deutet sich schon an, was sich in der Therapie fortsetzt – es prallen Welten aufeinander. „Die Behandlung hängt grundsätzlich von der Erkrankung ab. Das können gutartige Tumore sein, bösartige Tumore, es kann sein, dass der Patient nur eine Tablette einnehmen muss – das ist ganz unterschiedlich", erläutert Endokrinologe Dr. Martin Merkel. Auch Heepen hat für Hormonstörungen verschiedene Ansätze: „Ich behandele auf verschiedene Art und Weise. Einerseits gibt es homöopathische Mittel, die den Hormonhaushalt über das Gehirn stimulieren, die auf Dr. Franz Riedweg zurückgehen. Gleichzeitig kann man auch über Nahrungsergänzungsmittel bestimmte Stoffe zuführen, um den Hormonhaushalt zu verbessern. Ein Beispiel dafür ist Zink. In bestimmten Fällen arbeite ich auch mit bioidentischen Hormonen, die homöopathisch aufbereitet werden."
Bioidentische Hormone – noch so ein Fall, bei dem Uneinigkeit herrscht. „Bioidentische Hormone sind gerade im gynäkologischen Bereich ein richtiger Hype. Mir ist nicht bekannt, dass die bioidentischen Hormone wirklich besser sind als die künstlich produzierten. Im Einzelfall kann man aber nicht ausschließen, dass sie besser verträglich sind. Und man lernt auch manchmal dazu. Früher hatte man beispielsweise auch Schweineinsulin, heute nehmen wir nur noch menschliches, weil wir es herstellen können. Aber häufig spricht nichts gegen bioidentische Hormone", resümiert Merkel. Heilpraktiker wie Heepen sind sich sicher, dass der Körper bioidentische Hormone besser verarbeiten kann. „Synthetische Hormone sind immer chemische Stoffe, die zwar auch an Hormonrezeptoren andocken können, aber letztlich auch belastend sind und die eigene Synthese von Hormonen herunterfahren können. Synthetische Arzneimittel, die der Körper nicht kennt, sind etwa für die Leber belastend oder der Körper deponiert diese Stoffe, weil er sie nicht abbauen kann. Bioidentische Hormone sind so wie die körpereigenen. Das heißt, der Körper geht auch über den Stoffwechsel anders damit um und kann diese entsprechend abbauen und an den Hormonrezeptoren einsetzen." Er verweist in diesem Zusammenhang auch auf seinen Kollegen, Dr. Volker Rimkus, der eine ganz eigene Methode entwickelt hat. Auch Rimkus schreibt, er habe weder Doppelblind- noch Placebo-Studien durchgeführt. Sicher sei er sich seiner Methode dennoch. Ein Vorgehen, das Schulmediziner wie Merkel nicht verstehen: „Wie kann es sein, dass man am Menschen etwas einsetzt, das so nicht nachgewiesen ist? Das ist nicht in Ordnung."
Unzählige unseriöse Angebote
Der Bedarf an Alternativen zu synthetischen Hormonen aber scheint gerade bei Frauen groß zu sein. Viele haben keine Lust mehr, künstliche Pillen einzuwerfen. Und so werben Vertreter der bioidentischen Hormone nicht selten damit, eine nebenwirkungsfreie Form der Hormongabe gefunden zu haben. Studien aber beweisen: Nebenwirkungsfrei sind Hormone nie. Ob bioidentisch oder synthetisch – es handelt sich um wirkmächtige Stoffe, die unseren Körper beeinflussen. Ein falsches Versprechen also. „Natürlich kann ich mit bioidentischen Hormonen auch Nebenwirkungen auslösen. Das kommt aber immer darauf an, wie stark die Konzentration ist. Wenn ich mit bioidentischen Hormonen mit 0,1, 0,3 oder zehn Prozent arbeite, dann kann ich auch damit negative Wirkungen auslösen. Beim homöopathischen Einsatz arbeite ich mit einer Verdünnung von 1:10.000 – sie entspricht etwa der Verdünnung im Blut. Bis ich da negative Wirkungen auslösen würde – so viel kann ich gar nicht auftragen", erklärt es Günther Heepen.
In seinem Buch wirbt Heepen aber nicht nur mit bioidentischen Hormonen, sondern auch mit pflanzlichen Stoffen, sogenannten Phytohormonen. Denen wiederum wird nachgesagt, dass sie schädlich sein können, indem sie die Hormonrezeptoren blockieren. „Das ist ein Schlüssel-Schloss-Prinzip. Wenn eine Pflanze ein ähnliches Hormon hat wie der Mensch, es allerdings nicht ganz genauso ist, dann können sie sich in der Wirkung behindern. Es ist nicht so, dass Pflanzen keine Wirkung auf den Menschen haben", macht Merkel deutlich.
Und auch Heepen lenkt – trotz eigener Anwendung – ein: „Vor einigen Jahren gab es negative Veröffentlichungen zu Phytohormonen, hauptsächlich ging es dabei um Phytoöstrogene. Da wurde festgestellt, dass sie ebenso wie normale Hormone eine negative Wirkung haben, wenn man sie langfristig einsetzt. Auch pflanzliche Hormone können nur eine zeitlich begrenzte Substitutionstherapie sein. In der Praxis verabreiche ich sie meist über vier bis acht Wochen. Ich empfehle zusätzlich die Reflexzonentherapie, orthomolekulare Präparate und bioidentische Hormone und versuche dadurch eine langfristige Verbesserung zu erreichen."
Der Patient findet bei Hormonstörungen nicht nur zwei gegensätzlich vorherrschende Strömungen, was Diagnostik und Therapie anbelangt. Vielmehr noch scheint der Markt überschwemmt zu sein von unseriösen Angeboten. „Es gibt im Internet viele Möglichkeiten, sich Hormonpräparte zu bestellen. Auf ausländische und unbekannte Firmen würde ich mich nicht verlassen. Jamswurzelextrakt aus Südamerika zum halben Preis beispielsweise – kein Mensch weiß, was da drin ist. In Deutschland geht das nicht so einfach. Medikamente, die hier zugelassen sind, müssen auch den Wirkstoff enthalten", verweist Günther Heepen.
Doch um sich überhaupt Medikamente besorgen zu können, müsste die Hormonstörung dem Patienten erst einmal bekannt sein. Ein großes Problem sei hier, dass es zu wenige Hormonspezialisten in Krankenhäusern gebe, sagt Merkel. In der Ärzteausbildung würde dieses Wissen folglich verloren gehen.
Der Hintergrund: Hormonerkrankungen werden meist ambulant behandelt, und das würde sich schlicht nicht rechnen. „Für die Krankenhäuser ist das nicht lukrativ genug. Aber das muss man politisch lösen. Es gibt ein Gesetz, das sagt: Jedes Krankenhaus muss zwei Hygiene-Spezialisten anstellen. Genauso müsste man das mit Hormon-Spezialisten machen. Auch damit die Aufmerksamkeit für Hormonerkrankungen im stationären Bereich wächst – im Krankenhaus kommt oft niemand auf die Idee, dass es auch eine Hormonerkrankung sein kann."