17 von 20 Punkte im renommierten Restaurantführer „Gault&Millau" sind schon eine Hausnummer. Und diese hohe Bewertung hat sich das „Volt" in Berlin auch redlich verdient. Matthias Gleiß und seine Crew setzen auf „klassische Gerichte mit dem Touch von heute".
Wahrscheinlich ist der Winter die schönste Jahreszeit, um das „Volt" zu entdecken. Ein kleiner Spaziergang am Paul-Lincke-Ufer und schon treten wir in der Dunkelheit in eine kupferfarbene Kuschelhöhle ein. Gemütlich! Obwohl der Blick in den backsteingemauerten, hallenartigen Raum des ehemaligen Umspannwerks etwas ganz anderes zeigt, aber das designaffine Auge nicht minder erfreut: Warmtonige Holztische und Stühle sind geradlinig ausgerichtet, die kupferummantelten runden Leuchten hängen in Reih und Glied darüber. Eine umlaufende, metallene Galerie und Rundbögen strukturieren den Raum. Das alles ist serielle Kunst fürs Auge, die es schafft, in der historischen Industriekathedrale mit geschickter Lichtführung und Akzenten Wohlfühlinseln für den Restaurantbesuch zu schaffen.
„Es war mir wichtig, eine gute Atmosphäre im Raum zu haben", sagt Chefkoch Matthias Gleiß, der das „Volt" seit 2010 als Inhaber und mit einem insgesamt 17-köpfigen Team führt. Auch die Akustik stimmt. Ein durchdachter Schallschutz sorgt dafür, dass bei voller Besetzung der bis zu 80 Plätze das Gespräch über den Tisch hinweg angenehm ist. Doch halt, wir sind nicht in ein Design-Studio eingekehrt, sondern in ein Restaurant, um uns an den Kochkünsten von Matthias Gleiß und seiner Küchen-Crew zu erfreuen. Noch bevor wir zu den „klassischen Gerichten mit dem Touch von heute" kommen, wie Gleiß seinen Stil beschreibt, übernimmt Sascha Hammer. Der Sommelier schenkt aus einer Flasche der Hausmarke „Volt" vom Gut Hermannsberg „einen Riesling-Brut-Sekt von der vormals königlich preußischen Weinbaudomäne" ein.
Kaum haben wir vom Frischkäsedip mit Fenchel und Piment auf dem hausgebackenen Sauerteig-Malzbrot gekostet, schweben bereits die Amuses zu uns hinauf. Die Küche liegt in dem denkmalgeschützten Gebäude im Keller; die Gerichte werden per Fahrstuhl geschickt. „Eine Verlegung der Küche nach oben könnte man einfach nicht finanzieren", erzählt Matthias Gleiß, „aber es funktioniert so gut für uns." Ebenerdig gibt es ein Separee sowie halböffentlich auf der metallenen Galerie oberhalb der Bar einen weiteren Bereich für Gruppen, die für sich bleiben wollen.
Hohe Kunst der filigranen Veredelung
Die Mini-Kartoffelpuffer mit Fischcreme und Dill, eine hochkonzentrierte Enten-Consommé im Glas sowie Reis-Cracker mit Kerbelknolle und marinierter Schnittlauchblüte tun genau das, wozu sie aufgetragen wurden: Sie wärmen uns auf. Die säuerlich gebadete lila Blüte fügt dem gemüsigen Reis-Knusperscheibchen eine zarte, zwiebelige Würze hinzu, die aus einem schönen Häppchen ein raffiniertes macht. Die Kunst der filigranen Veredelung bekannter deutscher Gerichte beherrscht Matthias Gleiß aus dem Effeff. Er präsentiert sie jeweils in einem Fisch- oder Fleisch- sowie einem vegetarischen Menü. Deutsche Küche, durchaus berlinerisch vom Ansatz her, aber immer leicht, nie verkrampft traditionell, ist sein Metier.
Die zwanglose Verbindung des Gestern mit dem Heute zeigt sich auf den Tellern ebenso wie in der Architektur. Hans Heinrich Müller, 1928, außen, trifft auf eine klare, zeitgenössische Gestaltung innen. Dogmen müssen vor der Tür bleiben. „Wir machen ein Wunschmenü. Man kann unterschiedlich kombinieren oder einzelne Gerichte wählen", sagt Gleiß. „Man will schließlich noch etwas selbst auszusuchen haben." Das fünfgängige Menü mit 64 bis 79 Euro ist zudem ein auf diesem Level überaus faires Angebot. Der 45-Jährige, der bereits im vorherigen Restaurant am selben Ort als Küchenchef arbeitete, lässt seit der Übernahme 2010 seiner Fantasie freien Lauf. Zu jeder Jahreszeit entwickelt das zehnköpfige Küchenteam neue Gerichte. „Ich schlage nicht das große Buch auf und sage: ‚Jetzt ist Dezember, jetzt muss es genau dies oder das sein‘." Matthias Gleiß nimmt sich zudem immer wieder einmal Zeit, um Produzenten in der Region zu besuchen. Oder er schaut auf dem nahe gelegenen Markt am Maybachufer vorbei, um Neues zu entdecken. Den beinah perfekten, zartgrünen Lauch von einem Brandenburger Bauern beispielsweise.
Das Gemüse finden wir später in gebratener Form und in frittierte „Härchen" aufgesplittet auf einem Portobello-Pilz wieder. Der übergroße Bruder vom Champignon wurde in seinem eigenen Sud und in Macadamiaöl gebadet. Auf den geöffneten Lamellen bietet er eine komfortable Liegefläche für das Zweierlei vom Porree, mit Holunderöl marinierten Chicorée und Kapuzinerkresse. Hallo Herbst, du bist lecker! „Sie haben nicht nur keine Angst vor Würze, sondern es ist so gut, dass es beinah euphorisierend ist", meint der italienische Feinschmecker-Fotograf. Die Pilze wirken.
Individuelle Wunschmenüs
Die Begleiterin und ich sind gleich vom ersten Wein euphorisiert. Wir starten mit einem 2016er Riesling Kabinett Römerstich „Zum Jäger aus Kurpfalz" von Hees. Der Wein schafft das Kunststück, gleichermaßen tief fruchtig wie knackig-säurebetont zu sein. Chapeau! So einen dessertkompatiblen, gut gekühlten Weißen zu einem Häppchen Fisch auszuwählen und damit die gewohnte Menü-Dramaturgie einmal komplett über den Haufen zu werfen, zeugt von der Kühnheit und Inspiration des Sommeliers. Der geräucherte Heilbutt mit Schwedenmilch, Bronzefenchel, Avocado-Birnen-Ragout, Wacholder, Piment und Lorbeer passt bestens dazu. Nach dem Dessert, beim Gespräch mit Matthias Gleiß, kommen wir – wie der Chef selbst – gern noch einmal auf einen Schluck davon zurück. Sascha Hammer hat mit dem leichtfüßigen Weißen mit schlanken 8,5 Volumenprozent Alkohol einen überraschenden Auftakt hingelegt.
Wir bleiben ihm bei der mit Heu im Ofen gebratenen Wachtelbrust treu. Die Unterlage aus Mairübe und Gerste präsentiert sich kreisrund, aber grafisch streng „halb und halb" geordnet auf dem Teller. Maiscreme und ein pochiertes Wachtelei, Wachtelterrine aus der Keule, Löwenzahnblätter und Segel aus Brotchips haben eine noch beinah sommerliche Unbekümmertheit. Ich denke an die große Terrasse hinter der „Dornröschenhecke", die das „Volt" vom Ufer trennt. „Wiederkommen" und „Draußensitzen!" notiere ich mir gedanklich.
Auch zum Fischgang mit Seeteufelbäckchen mit gehobeltem Vulcanospeck, dem Lauch vom Markt aus dem Ofen, warm gezogenen Weintrauben und süß-säuerlich marinierten Weinbeeren traf Sascha Hammer mit einem im Holz ausgebauten Weißburgunder vom Weingut Auffricht am Bodensee eine ungewöhnliche Wahl. Wir trinken aus einem großen Rotweinglas. „Frucht, Schmelz und die Kraft im Hintergrund kommen in einem kleinen Glas nicht richtig zur Geltung", sagt der Experte. Die Begleiterin mag’s kaum glauben. Doch wir dürfen gegen-trinken und aus dem Weißweinglas probieren. Tatsache. Die Fülle findet darin nicht genügend Raum; Punktsieg für das Rotweinglas.
Es spricht für den überaus herzlichen und versierten Service, den Gästen solche Experimente nicht nur in Worten, sondern auch in Taten zu ermöglichen. Nur kurz wird es direktiv, als Restaurantleiterin Sabrina Lehricke die sous vide gegarte und rosa gebratene Lammhüfte „mit dem Blitz auf 17 Uhr" aufträgt. Der Fotograf will den Teller für eine bessere Ausleuchtung drehen. Doch die angriffslustige Pfeilspitze aus geräuchertem Paprikapulver zum Fleisch mit blanchierten und geschmorten Paprika, rohen und marinierten Schmor- und Dillgurken und Lammspeck soll bitteschön stets auf den Gast zeigen. Als Perfektionisten verstehen wir die Ansage, haben unser Vergnügen an der Idee dahinter und am Anblick des Gerichts. Für den Fotografen gibt’s zur Besänftigung mit Fregola, sardischen Nudel-Kügelchen, einen unerwarteten Gruß aus der Heimat. Der Paprika-Blitz ist keineswegs Chichi, sondern ein Angebot, selbst nach Gusto mit der rauchigen Schärfe nachzujustieren.
Paprika-Blitz ist keineswegs Chichi
Zum Lamm gibt es einerseits klassisch einen Rotwein und andererseits unklassisch für einen deutschen Roten eine Cuvée Luitmar von 2016 von Philipp Kuhn. Die Cuvée aus 60 Prozent Cabernet Sauvignon sowie San Giovese, Blaufränkisch und St. Laurent-Trauben ist im Barrique ausgebaut, aber keineswegs zu intensiv oder übergriffig. Perfekt dazu ist die relativ kühle Temperatur, die den Wein parallel zu Fleisch und Gemüse, Paprika und Blitz dynamisiert.
Das „Volt" ist wahrscheinlich einer der beständigsten „Underdogs" der Fine-Dining-Szene in der Hauptstadt. Hartnäckig bleibt Matthias Gleiß seit Jahr und Tag unbesternt. Dafür ist er aber gerade zum wiederholten Mal mit 17 von 20 Punkten in der Berliner Oberliga der Restaurants im „Gault&Millau" gelistet worden. Der „Aufsteiger des Jahres"-Titel der „Berliner Meisterköche" datiert ebenfalls schon von 2011. Mag es an Matthias Gleiß unkapriziöser Art und dem selbstverständlichen wie perfekten Umgang mit seinen Produkten und Ideen liegen? Wir wissen es nicht, sind aber nicht zuletzt recht froh darüber. So wird es hinter Dornröschenhecke und hohen Industriedenkmal-Fenstern, ganz gleich ob sommers oder winters, leichter einen freien Tisch für einen in jeder Hinsicht geschmackvollen Abend am Landwehrkanal geben.