Bis zum 14. Januar laufen in den Berliner Sophiensaelen die Tanztage – seit Jahren eine feste Größe im Festivalkalender. Auch bei der 27. Ausgabe gibt es viel zu entdecken.
Kein roter Faden, aber vielleicht doch ein wiederkehrendes Motiv des diesjährigen Festivals – so möchte es Kuratorin Anna Mülter verstanden wissen. Schließlich gehe es in fast allen der Produktionen im Programm der Tanztage um „Erfahrungen von Differenz", sagt die Festivalleiterin. Und das zieht sich durch ganz unterschiedliche Bereiche.
Am augen- und auffälligsten vielleicht in zwei Produktionen, auf die Mülter ganz besonders stolz ist. Stücke, in denen Tänzer mit und ohne Behinderung gemeinsam auftreten. Als Inklusionsprojekte will sie die Arbeiten aber auf keinen Fall verstanden wissen. Im Gegenteil: Gerade der zeitgenössische Tanz, so Mülters Einschätzung, könne durch Tänzer und Darsteller mit Einschränkungen „unglaubliche Impulse" erhalten. Das freilich habe sich hierzulande noch nicht in den Köpfen von Theaterleitern und Festivalmachern festgesetzt – in anderen Ländern, beispielsweise in Großbritannien, sei man da wesentlich weiter.
Im Rahmen der Tanztage in den Sophiensaelen allerdings kann die Initiative „Tanzfähig" jetzt eine im wahrsten Sinne des Wortes berührende Arbeit präsentieren. Nicht nur in Berlin-Wilmersdorf, auch an anderen Orten in Deutschland bieten Pädagogen im Rahmen der Initiative regelmäßig Workshops und Tanztraining für Menschen aller Altersgruppen mit und ohne Behinderung an. Körperbilder werden neu gedacht, Bewegungsmöglichkeiten erforscht, allein, zu zweit, in der Gruppe. Mit fünf Tänzerinnen und Tänzern hat Choreografin Zwoisy Mears-Clarke nun ein 20 Minuten langes Stück für das Festival entwickelt – eine Performance in einem stark abgedunkelten Raum. Dabei geht es um die Wahrnehmung von Tanz oder Bewegung durch Berührung – und das Aufeinandertreffen von Darstellern und Publikum. Eine Arbeit, die das gewohnte Verhältnis zwischen beobachtendem Zuschauer und Geschehen auf der Bühne in mehrfacher Hinsicht durchbricht.
So wie eine ganze Reihe anderer Produktionen, die Anna Mülter zu der diesjährigen Ausgabe des Nachwuchsfestivals eingeladen hat. Das findet mittlerweile in der 27. Auflage statt und hat in über 20 Jahren seinen Platz in der sich rasant verändernden Kulturlandschaft Berlins behauptet. Mit einem Budget von 120.000 Euro präsentiert es 14 Produktionen in der ersten Januarhälfte – die Hälfte davon sind mit dem Festival koproduzierte Premieren. Stücke, die mit Summen zwischen 3.000 und 6.000 Euro gefördert wurden.
Nicht nur der große Saal des einstigen Handwerkervereinshauses von 1904 wird bespielt, auch der sogenannte Hochzeitssaal sowie die Kantine, Orte mit Charakter, denn blätternder Putz und bröckelnder Stuck sind Überbleibsel des ehemaligen Repräsentationsbaus. Und auch einer der kleinsten Räume des Hauses wird zum Veranstaltungsort – gleich zu Beginn des Festivals zeigen „Helen Schröder und Die Neue Kompanie" hier ihren „Tanzatlas".
Verschiedene Formate auf unterschiedlichen Bühnen
Dabei nehmen die Akteure eine überschaubare Zahl von Zuschauern – man sitzt um einen langen Tisch herum – auf eine „Tanzreise um die Welt" mit. Indem sie Alltagsgegenständen und Küchenutensilien Leben einhauchen, sie zu Protagonisten verschiedenster Tanzkulturen werden lassen. Eine der Produktionen des zehntägigen Festivals, bei der es nicht allzu schwer sein dürfte, den Austausch zwischen Performern und Publikum in Gang zu setzen.
Überhaupt: Unter dem Motto „Let’s talk about dance" gibt es eine ganze Reihe von Angeboten, bei denen Choreografen, Tänzer und Zuschauer miteinander ins Gespräch kommen sollen. Dabei habe man sich größtenteils vom moderierten Talk nach einer Vorstellung verabschiedet, erzählt Anna Mülter. Stattdessen gäbe es spielerische Angebote. Kärtchen würden da beispielsweise verteilt mit Fragen, bei denen es darum geht, was man beim Zuschauen erlebt habe, was gesehen, gehört, gerochen? Welche Emotionen habe man empfunden? Schon die Beantwortung solcher Fragen sei in der Regel eine gute Basis, um die eigenen Erlebnisse im Theaterraum mit anderen zu teilen und in der Diskussion vielleicht noch einmal auf vollkommen andere Erfahrungen und Interpretationen rund um das gesehene Stück zu stoßen.
Ein „klassisches" Choreografengespräch wird es dennoch geben – im Anschluss an das Programm „Around the world". Bei jeder Ausgabe der Tanztage bemüht sich Anna Mülter nämlich auch um eine Kooperation mit einem Festival in einem anderen Land. Letztes Jahr waren Choreografinnen aus dem Iran zu Gast, jetzt sind es zwei Künstlerinnen aus Griechenland. In ihrer Heimat wurden ihre Produktionen vom Onassis Cultural Centre in Athen gefördert, eine der wenigen Anlaufstellen für zeitgenössischen Tanz im krisengebeutelten Griechenland. Aber trotz der knappen Staatsfinanzen gäbe es viel mehr an kulturellen Initiativen, als man sich vorstelle, sagt Anna Mülter. Allerdings arbeiteten die meisten Künstler außerhalb „jeglichen ökonomischen Zusammenhangs".
Die prekäre Lage für Choreografen in Griechenland einerseits, die aber auch nicht einfache Situation für den Nachwuchs in Berlin andererseits – all das spiegeln die Tanztage in ihrem diesjährigen Programm wider. Und füllen eine Lücke, in dem sie gerade ganz jungen Künstlern und Absolventen eine Plattform für erste Arbeiten bieten. Somit ist Kuratorin und Festivalleiterin Mülter das ganze Jahr über unterwegs, um nicht nur am HZT, der über Berlin hinaus bedeutenden Ausbildungsstätte für zeitgenössischen Tanz, Entdeckungen zu machen. Sieht sich Abschlussarbeiten an, lernt neu entstehende Proben- und Veranstaltungsorte kennen wie etwa die Lake Studios im Südosten Berlins.
Und weiß, wie schwierig es gerade für frisch ausgebildete Choreografen ist, in der Berliner Tanzlandschaft Fuß zu fassen. Das liegt nach Mülters Einschätzung unter anderem am Fördersystem – nicht jedes Jahr werden ausreichend Einstiegsförderungen für erste Produktionen vergeben. Eine gehörige Portion Improvisationstalent ist also für den künstlerischen Nachwuchs überlebenswichtig, Vorbild könnten da durchaus die Tanztage sein, die mit überschaubarem Budget zeitgenössischem Tanz in unterschiedlichsten Facetten eine Bühne bieten.