Das „Mandelbaum" in Weißensee ist zwar ein reines Bio-Restaurant, aber fernab des Klischees vom etepetete-gesunden Restaurant mit Erziehungsanspruch. Auch Menschen mit Laktose- oder Gluten-Unverträglichkeit sowie Allergien sind hier bestens aufgehoben.
Es war die Bio-Gans, deren Ruf dem „Mandelbaum" vorauseilte. „Die beste, die ich seit Jahren in Berlin gegessen habe", sprach der Bekannte und Gastronomie-Profi nach einem privaten Besuch in dem Weißenseer Lokal. Gut, dass wir darüber gesprochen hatten. So fiel mein Augenmerk auf das Bio-Restaurant, und ich nahm Kontakt auf. „Wir sind ein ganz normales Restaurant", sagte Besitzerin Marie Etzien im ersten Telefonat. Das stimmt schon: Mit Wiener Schnitzel, Gänseleber Berliner Art und Spaghetti alla Carbonara oder al Gorgonzola, Bachforelle und Ratatouille stehen geländegängige und geliebte Wohlfühlgerichte irgendwo zwischen deutsch-österreichischer Hausmannskost und Mittelmeerküche auf der Karte.
Allerdings werden sie allesamt aus EU-Bio-zertifizierten Lebensmitteln zubereitet. „Bis auf Wasser und Salz ist alles bio. Aber das sind auch keine organischen Substanzen", bringt es die 32-Jährige auf den Punkt. Als Marie Etzien 2003 von Fischland Darß fürs Biologie- und Chemie-Studium nach Berlin zog, war sie verblüfft über die Qualität – oder besser Nicht-Qualität? – und Quantität der in der Stadt erhältlichen Lebensmittel. „Ich bin auf dem Land groß geworden und war es gewohnt, im großelterlichen Vorratsraum ‚einzukaufen‘", sagt sie. Entsprechende Qualität des vor Ort gewachsenen Gemüses und Obstes sowie des Fleisches von ordentlich gehaltenen Tieren inklusive. Das gab die Marschrichtung vor, als das eigene Restaurant zunächst im Kopf und danach in Weißensee, wo Marie Etzien selbst lebt, Gestalt annahm: „Ich esse alles. Fleisch aber nur, wenn es aus nachhaltiger Landwirtschaft kommt."
Und so kommt an die – selbstredend mit Ei abgebundenen – Spaghetti alla Carbonara ein sehr würziger Speck und bringt die in diesem Fall glutenfreie Pasta aus Buchweizenmehl im Mund zum Tanzen. Grobe Parmesanstreifen werden extra zum Drüberstreuen gereicht, und schon ist alles so geschmacklich rund, wie es sein soll. Die Begleiterin ist die geeignete Testperson für diese Variante –
sie verträgt kein Gluten. „Möchten Sie glutenfreies Brot?", wurden wir bereits vorab gefragt. Dabei ist das „Mandelbaum" kein etepetete-gesundes Restaurant mit Erziehungsanspruch. Aber unter den Gästen und in Zöliakie-Foren sprach sich rasch herum, dass Menschen mit etwa Laktose- oder Gluten-Unverträglichkeit oder Allergien dort gut aufgehoben sind.
Hier weiß man genau, was im Essen steckt
„Weil wir alles frisch selbst kochen, wissen wir, was in unseren Gerichten drin ist", sagt Marie Etzien. Dies muss für das Bio-Zertifikat dokumentiert werden. Sämtliche Rezepte sind exakt hinterlegt. Marie Etzien hält gemeinsam mit Küchenchef Thomas Kalinke, mit dem sie seit 13 Jahren zusammenarbeitet, die Qualität hoch. Die Gas-tronomie ist ihr vertraut; sie jobbte bereits als Schülerin und Studentin in der Branche.
Vor fünf Jahren eröffnete sie ihr Restaurant an der Smetana-, Ecke Bizetstraße. „Am Anfang habe ich alles selbst gemacht." Das hatte Folgen: „Ich kann in keinem Zwei-Personen-Topf mehr kochen", erzählt sie lachend. Inzwischen sind zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Team. Die meisten sind lange dabei. „Jeder ist für jeden da. Es zählt immer auch der Mensch."
Küchenchef Thomas Kalinke war in seinem ersten beruflichen Leben Metzger. So erklärt sich beinah von selbst, warum die winterliche Gans oder das Wiener Schnitzel mit Bratkartoffeln und Speck Lieblingsgerichte der Gäste sind. Die Zutaten sind einfach, aber von überzeugender Güte. „Jede einzelne Komponente schmeckt für sich schon gut", meint die Begleiterin. Filigrane Verfeinerungsschnörkel oder Deko-Orgien finden nicht statt. Das knusprig ausgebackene Kalbsschnitzel mit Bratkartoffeln und Speck macht definitiv pur glücklich. Der bunte Salat als Beilage verlangt nach gesonderter Aufmerksamkeit und im Prinzip gern nach mehr. Den Mix von Tomaten, Gurke, Paprika, Karotten und Sprossen gibt’s in einer großen oder kleinen Variante ebenfalls als eigenständiges Gericht. Wir wählten die Himbeer-Vinaigrette als Dressing und waren sehr angetan.
Die Portionen sind ordentlich bemessen. Ein Wiener Schnitzel ist etwa eine gute Stärkung nach einem Spaziergang durchs sanierte „Komponistenviertel", über den nahe gelegenen jüdischen Friedhof oder nach einer Umrundung des Weißensees. Tatsächlich kehren tagsüber öfters Trauergruppen im „Mandelbaum" ein – der St. Hedwig-Friedhof Pankow-Weißensee und der Auferstehungsfriedhof liegen nahebei, und Weißensee ist nicht gerade für eine Fülle an guten Restaurants bekannt. Ob die Gäste an der Tafel ebenso wie wir eine milde, pürierte Apfel-Sellerie-Suppe von der Tageskarte oder ein deftigeres „Chili sin carne" mit Sojaschnetzeln erhalten, können wir aus der Distanz nicht erkennen.
Fakt ist aber, dass der Kuchen im „Mandelbaum" fern von jeglichem klischeehaften „trockenen Beerdigungskuchen" ist. Alles ist hausgebacken, ohne Ei und Weizenmehl zubereitet – und somit häufig für „Unverträgliche" geeignet. „Sie müssen unbedingt von der Mandel-Ricotta-Tarte zum Dessert kosten", ruft uns Marie Etzien zu, bevor sie ihrem Kollegen vom Service hilft, die Gruppe in Empfang zu nehmen und zügig die Getränke zu servieren. „Die Tarte sieht unscheinbar aus, schmeckt aber super." Stimmt: Der hellgebräunte, flache Keil aus gemahlenen Mandeln und Nüssen, Buchweizen- und Reismehl sowie Ricotta mit einem Hauch Puderzucker sieht unschuldig aus. Geschmack bringen Ricotta, Zucker und Zitrone – das Stückchen ist zudem kompakter als es aussieht.
„Die Tarte sieht unscheinbar aus, schmeckt aber super"
Fürs Backen ist im „Mandelbaum" Marie Etzien zuständig: Käsekuchen, Dinkel-Schweineöhrchen oder eine Südtiroler Buchweizen-Bauerntorte mit Wildpreiselbeeren stehen unter Glocken. „Die Leute kommen rein, werfen einen Blick in die Vitrine und gehen wieder, wenn ihr Lieblingskuchen nicht da ist", weiß sie. Kann es ein schöneres Kompliment geben, als dass die Gäste unentwegt „ihren" Käsekuchen essen wollen?
Wer im „Mandelbaum" einkehrt, weiß das Bekannte ebenso wie die Abwechslung auf der Wochenkarte mit saisonalen Angeboten zu schätzen. Kinder bekommen mit Pasta-Spielarten, Mini-Thüringer-Rostbratwürstchen mit „Pü" oder Fischstäbchen eigene Lieblingsgerichte.
Da täglich außer montags ab 10 Uhr geöffnet ist, gibt’s auch diverse Frühstücke vom „Kleinen Süßen" mit Kaffee und Croissant für 5,20 Euro bis zum „Großen Mandelbaum-Frühstück" mit Pastrami, hausgebeiztem Lachs und Rote-Bete-Aufstrich für 13,80 Euro.
Klar, insbesondere Fleisch- und Fischgerichte in Bio-Qualität haben ihren Preis. Das Wiener Schnitzel oder die Bachforelle liegen bei 21,90 Euro. Die Spaghetti mit Tomatensoße gibt’s aber bereits für 9,90 Euro, die alla Carbonara für 15,90 Euro und die Pasta mit Lachs-Medaillons für 19,90 Euro. Die Angebote auf der Wochenkarte liegen im Spektrum von 4,80 Euro für eine Suppe bis 21,90 Euro für ein aufwendigeres Fleisch- oder Fischgericht. Der Aufwand für tiergerechte Aufzucht oder Bio-Gemüse und -Getreide bildet sich anteilig im Preis ab.
Im „Mandelbaum" finden 45 Gäste luftig verteilt in dem hellen, weitläufigen Innenraum Platz. In der warmen Jahreszeit können weitere 35 Gäste auf der vorgelagerten Terrasse sitzen. In dem Eckhaus befand sich vormals eine Bierkneipe. Marie Etzien bekam mit, dass das Lokal leer stand. Sie ging auf den Hauseigentümer zu und überzeugte mit ihrem Konzept eines Bio-Restaurants. Der Plan ging auf, das „Mandelbaum" läuft. Der Vertrag wurde vor einiger Weile mit solider Perspektive verlängert.
Ganz und gar nicht unscheinbar präsentiert sich das Lachstatar auf Rote-Bete-Carpaccio. Bei unserem Besuch stand es auf der wöchentlich wechselnden Angebotskarte. Auf hauchdünnen Rote- Bete-Scheiben lagert ein Taler aus fein gehacktem Lachs mit roten Zwiebeln. Die Begleiterin probiert erst einmal alles pur: „Die Rote Bete ist ganz fein im Geschmack, so gar nicht erdig." Eher warm und fruchtig kommt die Wurzel daher und lässt dem Lachs seinen Eigengeschmack. Ich sage: „Unbedingt vom Senf-Meerrettich-Schmand dazu nehmen!" Der ist ebenfalls fein abgeschmeckt, die junge Wurzel frisch gerieben, so dass die Creme mit Dezenz und sanfter Schärfe das zarte Fischhack ergänzt. Auch die knusprig gebratene Bachforelle konzentriert sich geschmacklich auf sich selbst und auf das Zitronen-Risotto, auf dem sie „angeschwommen" kommt. Die Küche im „Mandelbaum" kann eben nicht nur Würze und Wucht, sondern auch Zartheit und Leichtigkeit.
Wir haben jetzt jedenfalls einen Termin für den nächsten Spätherbst im „Mandelbaum". Die vielgerühmte Bio-Gans, die alljährlich ab dem 11. November auf der Karte steht, ist schon im „Probierplan" notiert.