Sie ist eine Symbolfigur: Als Mitschöpferin des modernen Ausdruckstanzes wurde Gret Palucca zu einer der außergewöhnlichsten Tänzerinnen und Pädagoginnen Deutschlands. An der von ihr gegründeten Schule und in den Werken ihrer Schüler lebt der Mythos Palucca fort.
Es gibt sie noch, die Palucca Schule in Dresden, direkt am Basteiplatz. Sie ist heute Deutschlands einzige eigenständige Tanzhochschule. Im Eingangsbereich erinnert eine schlichte Bronzeplastik auf einem Sockel an die große Tänzerin. Prof. Jason Beechey, Rektor der Palucca Hochschule Dresden, stammt aus Kanada. Die Schulgründerin hat er nie persönlich kennengelernt. Doch ist er überzeugt, dass die Schule in ihrem Sinne weiter geführt wird.
„Paluccas Wunsch war, dass jeder seine eigene Stimme im Tanz finden kann. Ihr Erbe ist diese Institution, dieser Ort, an dem Kreativität gefordert ist." Auch wenn Gret Palucca sich jeder Systematisierung ihres Tanzes und ihrer Unterrichtsmethodik entzogen hatte, ist die Schule von ihr geprägt wie kaum eine andere. Renommierte Lehrer aus dem In- und Ausland bilden dort Tänzerpersönlichkeiten, Choreografen und Tanzpädagogen aus. Der Unterricht basiert auf drei Säulen: zeitgenössischer Tanz, Improvisation und klassischer Tanz.
Das klassische Training bleibt die Grundlage der Ausbildung und unterscheidet sich doch von früher. „Die Idee fester Positionen oder Posen machen den klassischen Tanz steif und trocken", betont Jason Beechey mit ausdrucksstarker Gestik. „Wir arbeiten auch mit Bildern, Farben, Texturen oder Nuancen. Es ist interessant, wenn die Studierenden über die Beobachtung lernen: ‚Oh, das ist neu, das ist interessant.‘ Innerhalb unseres internationalen Lehrkörpers sind wir immer im Dialog. Wie ist das in Frankreich oder in Russland? Oder was bedeutet ‚Schwung‘ oder ‚Fallenlassen‘, normalerweise verboten im klassischen Tanz. Solche Elemente bringen uns frischen Wind. Wir öffnen den Raum für etwas mehr Freiheit, dass jeder sein Eigenes, tief aus dem Inneren finden möge."
Sich von innen ausdrücken, unverfälscht, ganz aus sich selbst: Genau darum ging es Gret Palucca. 1902 geboren, zog sie mit ihrer Mutter aus ihrer Geburtsstadt München nach Dresden. Sieben Jahre alt war sie damals. Die Tochter einer ungarischen Jüdin und eines aus Konstantinopel stammenden Apothekers bewegte sich schon immer gern. Mit zwölf Jahren nahm sie Ballettunterricht. Doch bald verlor sie die Lust. Der klassische Tanz war ihr zu brav, zu sehr geformt und angepasst. Palucca war ungestüm, voller Energie. „Ich will nicht hübsch und lieblich tanzen!", soll sie gesagt haben.
Ihr Markenzeichen war ihre unglaubliche Gelenkigkeit und Elastizität sowie ihre einzigartige Sprungkraft. Als Gret Palucca eine der Aufführungen von Mary Wigman, der Pionierin des Ausdruckstanzes sah, war sie so fasziniert, dass sie bei ihr Unterricht nahm.
Wichtige Impulse für den modernen Tanz kamen in den 20er-Jahren von Isadora Duncan und Rudolf von Laban. Körpersprache und eine moderne Bewegungslehre gaben Anstöße für eine Reform des konventionellen klassischen Tanzes.
Auch zum Bauhaus in Dessau knüpfte Palucca zahlreiche Kontakte. Die Hochschule für Gestaltung galt als die wichtigste Ausbildungsstätte der künstlerischen Avantgarde. Die Elite der Moderne unterrichtete dort. Viele Künstler, Architekten und Tänzer inspirierten sich gegenseitig. Auch Palucca tanzte und unterrichtete hier.
Kandinsky porträtierte in seinen „Tanzkurven" Paluccas Figuren
Mit ihrer unkonventionellen Lehrmethode regte sie die Studenten an, mit dem Körper den Raum in allen seinen Dimensionen zu erkunden. „Raum war für mich fast eine Selbstverständlichkeit. Aber er ist mir wirklich erst richtig zum Bewusstsein gekommen, als Wassily Kandinsky mir sehr viel darüber erzählt hat. Ich musste auch manchmal in sein Atelier kommen und Kreise und Dreiecke tanzen", erzählte sie in einem späteren Interview. Die Nähe ihres tänzerischen Stils zur Ästhetik des Bauhauses illustrieren die sogenannten „Tanzkurven" von Kandinsky, in denen er ihre Tanz- und Springfiguren in Linien, Bögen oder Kurven übersetzte.
In Nazideutschland galt der Ausdruckstanz als „entartet". Gret Palucca feierte man anfangs noch als das Idol der deutschen Tänzerin und ließ sie 1936 zur Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Berlin tanzen. Palucca wollte Karriere machen. Doch als herauskam, dass sie Halbjüdin war, durfte sie nur noch eingeschränkt, in kleinen privaten Kreisen auftreten. Ihre Schule, die sie bereits 1925 gegründet hatte, musste sie schließen.
Zu Kriegsende war Dresden eine Trümmerwüste. Gret Palucca verlor im Bombenhagel alles, was sie besaß. „Unser Haus brannte rasend schnell lichterloh. Ich glaube, es war mein unbändiger Lebenswille, dass ich noch die Kraft hatte, ins Freie zu laufen, mitten ins Feuer hinein. Hinter mir brach alles zusammen", erinnert sie sich. Trotz der Schrecken des Krieges wollte Gret Palucca nur eines: tanzen.
Ihr Stil galt in der DDR als „individualistisch"
Mit ihren lebensbejahenden Choreografien verbreitete sie Mut und Zuversicht. „Ich wollte arbeiten. Ich wollte unter allen Umständen mit aufbauen, der zerstörten Stadt helfen, wieder zu leben, und ich wollte wieder unterrichten."
In der DDR hatte es der individualistische Ausdruckstanz erneut schwer, denn er entsprach nicht dem Geist der neuen Zeit. Auf das klassische Ballett russischer Prägung hingegen legte man Wert. Die große Formalismus-Debatte in den 1950er-Jahren tat alles, was mit Ausdruckstanz zu tun hatte, als dekadent, mystisch und individualistisch ab. Palucca kämpfte um ihren Ausdruckstanz und erfand einfach das Fach „Neuer Künstlerischer Tanz". Die Schule wurde später verstaatlicht als „Fachschule für Künstlerischen Tanz". Palucca wollte keine einseitigen Tänzer ausbilden und sie nicht in ein Schema pressen, sondern deren Individualität und eigenen Ausdruckswillen wecken.
Heute geht es an der Dresdner Palucca Schule weniger darum, das Repertoire der Schulgründerin wiederzubeleben. Für Prof. Jason Beechey und sein Team ist es wichtig, schon beim Eignungstest und der Aufnahmeprüfung nicht nur darauf zu achten, ob der Körper für eine Tänzerlaufbahn geeignet ist, sondern ob die kleinen Bewerber Fantasie, Ideen und Intensität mitbringen. „Schon wenn sich die Kinder bewerben, sieht man die Seele im Leib, man sieht die Freude an der Musik und an der Bewegung. Und dies versuchen wir zu fördern, sodass der technische Unterricht ein Schlüssel zur Freiheit werden kann."
Große Namen gingen aus der Palucca Schule hervor: die Opernregisseurin Ruth Berghaus, Primaballerina Hannelore Bey, die Choreografen Dietmar Seyffert, Irina Pauls und viele andere.
Mario Schröder ist Ballettdirektor und Chef-Choreograf an der Leipziger Oper. Als er als Kind nicht mehr Fußball spielen wollte, zeigte ihm seine Mutter eine Annonce der Palucca Schule. Dem damals Zehnjährigen erklärte die Mutter, dass Ballett so etwas Ähnliches sei, wie das, was Charlie Chaplin mache.
„Ich verehrte Charlie Chaplin und dachte an Schauspiel und Geschichtenerzählen. Bei der Aufnahmeprüfung in Dresden erschrak ich, als ich mich das erste Mal barfuß auf einem Parkettboden im Spiegel sah. Palucca wollte, dass wir zur Musik improvisieren. Ich hatte nie zuvor getanzt und sagte ihr das auch. Sie forderte mich auf, doch einfach das, was ich jetzt gerade fühlte, zu tanzen. Ich wusste gar nicht wie das gehen sollte. ‚Dann tanz das! Versuche, das mit deinem Körper zu erzählen‘, schlug sie vor und ermutigte mich, genau dieses Unbehagen auszudrücken. Ich war ein sehr schüchternes Kind. Später, wenn ich getanzt habe, fühlte ich mich immer absolut frei." So erinnert sich Choreograf Mario Schröder heute an seine Lehrerin und seine ersten Tanzschritte an der Palucca Schule.
„Gret Palucca war ein Powerpaket pur. Wenn sie durch die Diagonale ging, hüpfte oder wenn sie tanzte, dann hatte man das Gefühl, dass sie darin völlig aufging und gleichzeitig alle Elemente sofort umsetzen konnte, die Enge oder die Weite, die Großzügigkeit, die Schwere, die Leichtigkeit, das Fliegen, das Stürzen. Und das hat sehr viel auch mit instinktiven emotionalen Prozessen zu tun, Dinge aufzubrechen oder Energiequellen frei zu legen, die sehr stark mit Körper und Geist zu tun haben. Im Tanz sind Tränen von Freude, Liebe und Schmerz. Tanz ist Leben."
Mario Schröder begann seine Karriere als Solist an der Leipziger Oper. Als Chef-Choreograf und Ballettdirektor schuf er an die hundert eigene Choreografien. Stets war und ist es ihm dabei wichtig, Tanz aus dem Operngebäude heraus in den Alltag der Menschen zu tragen. Mal verlegt er Proben in die Stadt, mal führte er Stücke an markanten Orten in Leipzig auf. Eines seiner Tanzstücke widmete er dem kleinen Mann mit Schnurrbart, Melone und Stöckchen in seinem Ballett „Chaplin".
Den Tanz aus der Oper heraus in den Alltag tragen
Sein neuestes Werk ist die Johannes-Passion, in Bewegung übersetzt und neu gedeutet. Erzählt wird die bekannte Geschichte um die letzten leidensvollen Tage im Leben Jesu Christi: das letzte Abendmahl, die Verleugnung durch Petrus, der Verrat durch Judas, die Verurteilung durch Pontius Pilatus, die Folter und die Kreuzigung. Mario Schröder stellt darin Fragen nach Macht und Ohnmacht des Einzelnen, nach Schuld und Verantwortung des menschlichen Handelns. „Ich versuche immer wieder, Fragen aufzuwerfen und weiterzugeben. Es geht darum, ein Stück weit seine eigene Geschichte mitzunehmen, auch sich selbst kennenzulernen, wer wir sind, woher wir kommen, was wir gerade machen. Und: Sind wir auf dem richtigen Weg?"
Fragen die auch Gret Palucca beschäftigt haben – ihr Leben lang. Sie tanzte und lehrte bis weit in das achte Lebensjahrzehnt. 1993 starb sie im Alter von 91 Jahren in Dresden. Auf Hiddensee, ihrer geliebten Insel, auf der sie viele glückliche Sommer verbracht hat, wurde sie begraben. „Palucca" steht auf dem Grabstein. Schlicht und einfach, so wie die große Künstlerin ihr Leben lebte.