Immer weniger klassisches Fernsehen, immer mehr Serien und Clips im Internet. Die Mediennutzung hat sich auch in Deutschland grundlegend verändert. Davon sind Zeitungen und Radio ebenso betroffen. Bislang unerforschte Nebenwirkung: Das umfassende Wissen geht verloren.
Saskia hat ihren Arbeitstag hinter sich. Das Abendbrot mit ihrem Sohn, ein tägliches Ritual ohne Smartphone, ist ebenfalls durch. Nun sitzt die alleinerziehende Mutter vor dem Fernseher, will sich entspannen und wartet auf den Beginn ihrer Kultur-Sendung. Ihr 13-jähriger Sohn schüttelt verständnislos den Kopf. Filme-Anschauen kennt er nur aus dem Internet. Er gehört zu der ersten Generation, die den Vorgang, vor dem zu Fernseher sitzen und darauf zu warten, was im linearen Programm gesendet wird, nicht mehr kennt.
Junge Leute wie er sehen gezielt die Inhalte, die sie sehen wollen. Alles, was sie nicht interessiert, ist im Bruchteil einer Sekunde weggeklickt. Mit Folgen. Während die Fernsehgucker geduldig auf ihren Film warten, werden sie mit Informationen aus anderen Bereichen des Lebens berieselt. Irgendetwas von dem, was über Kultur, Politik oder die Tierwelt berichtet wird, bleibt beim Zuschauer hängen, auch, wenn es sie oder ihn überhaupt nicht interessiert.
Ähnliches gilt für den klassischen Zeitungsleser, der die Papierausgabe in der Hand hält und sich eigentlich nur für Sport interessiert. Bevor er dort gelandet ist, wo er hinwill, muss er durch die große und kleine Politik, das Feuilleton, Wirtschaft und Lokales blättern. Dabei liest er mindestens die Schlagzeilen und manchmal sogar die Texte an.
Dies führt zu einem Wissen, das der Sportfan eigentlich gar nicht haben wollte, aber nebenbei mitgenommen hat. Ähnliches gilt fürs Radiohören. Medienexperten nennen dieses durch beiläufige Information erworbene Wissen „Kollateralwissen“. Es schwindet allerdings durch die Nutzung des Internets immer mehr. Informationen werden ausschließlich gezielt gesucht, alles andere sofort weggeklickt.
Erstmals aufmerksam auf dieses Phänomen wurde der Wahlkampfmanager Frank Stauss vor vier Jahren, als er den Wahlkampf für SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück organisierte. Der Wahlkampf beginnt bereits eineinhalb Jahre vor dem Termin. An erster Stelle steht die Untersuchung der eigenen Zielgruppe: Was wollen die SPD-Wähler von ihrer Partei? Wo drückt der Schuh? Welche Ängste herrschen vor? Bei Befragungen in sogenannten Fokusgruppen fiel den Wahlkampfmanagern auf, dass viele Befragte nicht einmal wussten, wie der aktuelle Regierungschef in ihrem Bundesland heißt. „Das liegt zum einen daran, dass immer weniger Menschen eine Tageszeitung lesen oder Fernsehprogramme sehen, in denen regelmäßig Nachrichtensendungen laufen“, sagt Stauss. „Mittlerweile sind wir an einem Punkt angekommen, an dem immer mehr Menschen sich nur noch ganz gezielt ihre Inhalte im Fernsehen oder am Computer streamen. Das führt zu einer Art Eskapismus. Dieser sollte aber nicht als Verweigerungshaltung oder Realitätsflucht missverstanden werden.“ Jeder schaffe sich mittlerweile seine eigene Realität.
Ein Beispiel: Ein Angler hat heutzutage die Möglichkeit, sich ständig über soziale Medien, Newsletter oder gezielt im Internet über Angeltrends zu informieren. Er selbst hat den Eindruck, gut informiert zu sein: Er wird ständig mit News versorgt, die sich allerdings weitestgehend ums Angeln drehen. Das Gleiche gilt für Pferdeinteressierte oder die modebewusste Mitdreißigerin. Niemand sollte allerdings annehmen, dass es sich um ungebildete Menschen handelt. „In unseren Fokusgruppen bilden wir immer einen Querschnitt der Gesellschaft ab und zwar eher mit höherer Schulbildung und Studium als mit geringerer. Doch auch dort stoßen wir auf immer mehr Menschen, die Bundeskanzlerin Merkel auch nach zwölf Jahren Amtszeit gern einmal bei der SPD verorten“, erzählt Frank Stauss.
Der 53-Jährige sieht diese Entwicklung mit großer Sorge. Denn in von seinem Team geleiteten Diskussionsrunden wird selbst dem gröbsten Unfug immer weniger widersprochen, weil die Wenigsten selbst die einfachsten Zusammenhänge in Wirtschaft oder Politik nicht erfassen. „So hatten wir kürzlich eine Fokusgruppe von zwölf Leuten, von denen der Zusammenhang von Exportleistung der deutschen Wirtschaft und Arbeitsplätzen im Land schlicht in Abrede gestellt wurde.“ Stauss und sein Team rieben sich verblüfft die Augen. Für einen Politiker, der mit solchen Erkenntnissen aus den Fokusgruppen Wahlkampf machen soll, ist das wenig befriedigend. Verstehen die Wähler nicht mehr die Zusammenhänge in einer immer komplexeren Welt, verstehen sie ebenso wenig den, der um ihre Stimme buhlt. Resultat: Wahlkämpfe müssen immer einfacher strukturiert werden, die Parolen nach Möglichkeit simpel daherkommen. Früher hätte man von einem „platten Wahlkampf“ gesprochen, heute heißt es: „Zielgruppen-Grading“.
Zusammenhänge werden nicht mehr begriffen
Wenn komplexe Sinnzusammenhänge nicht mehr verstanden werden und komplizierte Vorgänge auf einen simplen Nenner gebracht werden müssen, dann verwundert der jüngst weltweite Siegeszug der Populisten nicht. Die AfD ist seit ihrer Gründung 2013 Nutznießer dieser Entwicklung. Denn mit der Forderung: „Der Euro muss weg“ auf zehn Prozent der Wählerstimmen zu kommen, wäre in den 90er-Jahren so nicht möglich gewesen.
Medienwissenschaftler hatten Ende der 90er-Jahre eine ganz andere Vision. Man ging davon aus, dass es im Jahr 2020 eine sehr breit informierte und damit totalitären oder populistischen Strömungen gegenüber immune Gesellschaft geben werde. Doch die Wissenschaftler hatten denselben Fehler gemacht wie mehr als 150 Jahre zuvor Karl Marx: Sie hatten den „Faktor Mensch“ vergessen. Die Erkenntnis: Der Mensch sucht offenbar immer den bequemsten Weg und macht nur das, worauf er Lust hat.
Studien zum Verlust des Kollateralwissens durch eine verstärkte Internet-Nutzung gibt es (noch) nicht. Es fehlt auch an einer vergleichbaren Grundlage, denn verlässliche Zahlen zum Stand der Allgemeinbildung sind nicht verfügbar.
Doch begann das punktuelle Wahrnehmen von Inhalten nicht schon vor dem Internet? Das Privatfernsehen, das in den 90er-Jahren seinen Aufschwung erlebte, brachte die Zuschauer dazu, nur noch ihre Lieblingssendung einzuschalten. Nachrichten oder Informationssendungen, die man vorher vielleicht noch bei den Öffentlich-Rechtlichen mitgenommen hatte, haben im Privatfernsehen Seltenheitswert. Zur Fußball-WM 2006 führte die Telekom zudem V-DSL ein und startete damit inoffiziell das Internet-Fernsehen per Highspeed-Download. Das war das Ende des „großen Lagerfeuers“, vor dem sich die ganze Nation am Samstagabend einmal zusammenfand. Oma blieb dem „Musikantenstadl“ treu, Vater guckte Sport, Mutter einen Krimi. Die Kinder spielten längst mit der Playstation. Das gemeinsame Gespräch über die Inhalte, die man gesehen hatte, erstarb. Nicht nur das Kollateralwissen ging verloren, sondern auch eine gesellschaftliche Gemeinsamkeit.
Wenn die Gesellschaft immer mehr zerfasert, spaltet sich auch der Informationsbedarf auf. Was den einen interessiert, lässt den nächsten kalt: Gothic-Fans verstehen Kleintierzüchter nicht, und Dart-Spieler (für die gibt es stundenlange Sendungen!) finden Kochrezepte-Shows zum Abgewöhnen. Das Internet hat für noch mehr Trennschärfe gesorgt: Jeder, der genug Klicks auf seiner Webseite nachweisen kann, kann über Werbung finanziert sein eigenes Programm machen. Teens, die sich per Internet nur mit Kosmetiktipps, Mode, Tattoo-Shows oder dem Neuesten über ihren Superstar beschäftigen, gibt es genug. Früher oder später leben sie in ihrer eigenen Blase – und was um sie herum so passiert, interessiert sie nicht.