Philipp Vogel hat sich im „Orania“ in Kreuzberg die Beschränkung auf drei Hauptkomponenten je Gericht zur Maxime gemacht. Die kleine Karte mit saisonalen Produkten wird regelmäßig überarbeitet und variiert.
Lassen Sie es uns kurz machen und in die Worte der kulinarischen Begleiterin fassen: „Der Mann hat was vor.“ Der Mann ist Philipp Vogel, Küchenchef im „Orania“. Nach dem Teller mit Saibling, Steckrübe und Meerrettich ist uns klar, dass nicht nur Gegensätzliches vereint, sondern miteinander in Schwingungen versetzt wurde. Auf der grob gesalzenen Haut gebratenes Filet: kross von unten, das Fleisch genau auf den Punkt. Der Saiblingskaviar fürs fischige Extra-„Peng!“ im Mund. Die Rübe: als Creme, in Scheiben und Kugelform. Mal ein bisschen süßlicher püriert, mal wurzeliger, bissiger. Meerrettich-Hollandaise drumherum: fürs sanfte Mundgefühl und zum Zusammenbinden der einzelnen Produkte. Am Tisch darüber geriebene Rettichspäne: für die Optik und fürs Klarstellen, dass nur eine spannungsreiche Bindung taugt.
Philipp Vogel hat sich die Beschränkung auf drei Hauptkomponenten je Gericht zur Maxime gemacht. Dabei kommt dann so etwas wie die Übersetzung eines „Cesar’s Salad“ in Pasta heraus: Parmesan-Tortelloni in Blattsalat-Sud. Knackig, stückig und eingelegt für den Biss oder als cremige Sauce stellt sich der saure Salat der vollmundigen, eher weichen Präsenz von Käse und Pasta entgegen. Er ist nach knapp sechs Monaten ein Klassiker auf der zehn bis zwölf Gerichte umfassenden Karte des „Orania“ geworden. So wie es das Konzept mit frischen, saisonalen Produkten gebietet, wird sie immer wieder überarbeitet und variiert. „Wir wollen Essen machen, das den Gästen schmeckt und nicht zu kompliziert ist“, betont Vogel. „Ich finde nichts schlimmer, als wenn der Teller überladen ist mit Aromen.“
Das „Orania“ begreift sich als „Ort für Genießer, die nicht nur gut essen wollen, sondern die einen guten Drink und gute Musik schätzen“, sagt der Koch. Das geht alles gut neben- und miteinander. Denn das Restaurant schließt sich an den Lounge- und Bar-Bereich des „Orania“-Hotels an. Sind die farbigen Stoffbahnen aufgezogen und geben den Blick auf den offenen Kamin an der Stirnseite frei, ist das Restaurant geöffnet. Klaviermusik weht herüber – beinah an jedem Abend wird live auf dem Flügel in der großen, gläsernen Ecke gespielt. Die Übergänge sind fließend, und so schickt die Bar die Drinks, mit denen wir auf das „Vorneweg“ warten. Restaurantleiter Johannes Linster hat unsere Vorlieben richtig interpretiert. Der „Cherry Blizzard“ darf mit Cognac, Kirschbutter, Zitrone, Kirschbitter und Walnuss eiskalt und fruchtig bei mir einschlagen. Der „Silverlining“ umspült den Eisklotz in seinem Tumbler und den Gaumen des Fotografen mit weißem Tequila, Kamille, Lemon Curd und Absinth. Klingt nach einer Kreuzung aus Käsekuchen und Medizin, ist aber eine sehr süffige, weich-zitronige Mischung unterm Limettenscheibchen auf Eisberg.
Zur Einstimmung Süffiges aus der Bar
Zu Recht entwickelte er sich, ebenso wie der „Hastag Magic“ mit selbst gemachter Paprika-Emulsion und eingelegten Trockenfrüchten, zu einem Lieblingsgetränk. Die Bar zieht unter den Fittichen von Merlin Braun, Laura Driftmann und Hendrik Ratzmer auch das „Fachpublikum“ an. Die Kollegen aus der Barszene kommen gern vorbei. Der Sonntag habe sich zum „Gastronomentag“ entwickelt, verrät Johannes Linster. Die „unsüße“ Begleiterin wiederum ist mit der grünen „Lady Santa Maria“ mit Kakaorand und den rauchigen Noten von Mezcal, Agave, Limette, Chili und Koriander im Cocktailglas bestens bedient und happy.
Wir segeln währenddessen gemächlich mit dem Flaggschiff, aber ohne Christoph Columbus und Meer, ins norditalienische Veltlintal und mitten in eine Schale mit Feldsalat und Sciatt hinein. Letztere sind mit Käse gefüllten Bällchen von einem Brandteig aus Buchweizenmehl mit Bier. Sie verstecken sich mit knusprigem Äußeren und schmelzig-würzigem Inneren zwischen Feldsalatbüschelchen, eingelegten Mandarinen, Birnen und angebratenen Nüssen. Den besonderen Kick gibt ein Bergamotte-Dressing. Die unförmigere, aus süßer Limette und Zitronatzitrone gekreuzte Verwandte der Zitrone bringt ihr intensives Aroma an unseren winterlichen Salat.
Ein „klassisch angemachtes“, aber aus Büffelfleisch geschnittenes Tatar mit Wachtel-Spiegelei und hausgemachter Brioche kündigte uns Philipp Vogel außerdem an. Stimmt. Das Tatar vereint Säure, Schärfe und Fleischlichkeit unterm besänftigenden, feinen, kleinen Ei in sich und harmoniert mit der hintergründigen Süße einer angerösteten Brioche-Scheibe. Die Überraschung liegt beiläufig seitlich auf der dunklen Keramikplatte: roter und gelber Chicorée mit einigen Tüpfelchen Cocktailsoße und Knoblauchcreme. Weich gebraten, aber mit Biss darf sich das Bittergemüse geschmacklich prägnant austoben, ohne übergriffig zu werden.
Tatar aus Büffelfleisch mit Wachtelspiegelei
Es gäbe noch viel ausführlich zu beschreiben: den kräftigen rosa Rinderrücken im Barbecue-Style mit Knollensellerie-Variationen zu „Mac & Cheese“ etwa. Oder die zarte Maispoularde mit blanchierten Schwarzwurzeln und Trevisano-Salat. Fakt ist: Die Küche löst ihren Anspruch, unterschiedliche Facetten der drei Hauptdarsteller pro Gericht herauszuarbeiten, immer wieder ein.
Philipp Vogel weiß dabei genau, was er tut. Der 36-Jährige kam weit herum. Kochte in Shanghai, London und Berlin. War im Adlon tätig, ebenso wie bei Dieter Müller im „Schlosshotel Lerbach“. Erkochte als Küchenchef des „Edvard“ in Wien einen Stern. Von den Sharing-Platten für zwei oder mehrere Personen, die ihm im „Orania“ am Herzen liegen, müssen wir dieses Mal jedoch Abstand nehmen.
Wir sind bereits an den À-la-carte-Gerichten erfreut hängen geblieben. Diese liegen bei zwölf bis 16 Euro bei den Vorspeisen und Zwischengängen und zwischen 24 und 36 Euro bei den Hauptgängen. Der Aufforderung „Reich mir Mal“ kommen wir mit dem „Veggie Vergnügen“, „Mehr Meer“ oder „Das Kalb“ und für 29 bis 42 Euro pro Nase gern beim nächsten Besuch nach.
Auf unseren Fensterplätzen haben wir die offene Küche im Blick. Wer dem zwölfköpfigen Team bei der Arbeit zuschauen will, reserviert gern an einem der vier hohen „Chef Tables“ vor dem Tresen. Wir bleiben auf unserem warmen Plätzchen am Kamin. In dem L-förmigen Raum, in dem bereits bei der Fertigstellung des Gebäudes 1913 das „Café Oranienpalast“ war, gibt es am anderen Ende eine weitere offene Feuerstelle. Dort ist auch die Mini-Rezeption des Hotels untergebracht. Das entspricht der Philosophie des Hauses: „Wir sind ein Restaurant mit Zimmern“, erklärt Vogel, der nicht nur Küchenchef ist, sondern mit Dietmar Mueller-Elmau vom bayerischen Hotel „Schloss Elmau“ gemeinsam die Geschäfte führt.
„Das ist das hässliche Entlein unter den Desserts“
Unterm Dach entstand im fünften Stock ein weitläufiger, wohnzimmerartig gestalteter Salon. Er bietet Raum für Konferenzen sowie für regelmäßige Salon-Konzerte und Lesungen von und mit Künstlern aus Kreuzberg und Berlin. „Sie müssen unbedingt einen Blick ins Treppenhaus werfen“, rät Vogel. In der Tat. Wo man sich im späten 20. Jahrhundert über ausgelatschte Stufen wahlweise ins „Trash“, in den „Billardsalon“ oder zum Orthopäden hinaufschraubte, strahlt und duftet einem nun honigfarbenes Holz entgegen – Eisengeländer und die meisten Stufen wurden bei der Sanierung durch die Architekten von Hilmer & Sattler im Original erhalten und frisch gemacht. Der Denkmalschutz hatte nicht nur offiziell ein Wörtchen mitzureden. Hilfreich war sicher ebenfalls, dass sich mit Dietmar Mueller-Elmau ein ausgewiesener Liebhaber guter Gestaltung engagierte und der Restaurator des Treppenhauses früher selbst Besucher des „Billardsalons“ war.
Vom Hotel mit Caféhaus und späterem Warenhaus über Multifunktionsgebäude und zehnjährigen Leerstand zurück zu Restaurant mit Hotel: Die Geschichte des „Orania“ ist vielfältig, bewegt und keineswegs unumstritten. Sie passt in die neue Zeit und in die rauere Ecke von SO36 am Oranienplatz.
Der Besuch in der weitläufigen Lounge ist tagsüber ebenfalls erfreulich. Sind die benachbarten Cafés überfüllt, findet sich im „Orania“ immer noch genügend Platz zum kommoden Herumlümmeln mit Feingebäck. Das Wirken von Chef-Patissière Claudia Ruhmland macht das besonders angenehm.
Die frisch gebackene Konditormeisterin ist für die Torten und Kuchen unter den Glasstürzen vor dem Flügel ebenso zuständig wie für die aufwendigeren abendlichen Desserts.
Sie serviert uns höchstpersönlich warmen Schokokuchen mit Mandarine und Vanille an den Tisch. Ebenso bekommen wir die Kreationen aus Tapioka, Passionsfrucht und Tamarinde sowie aus Yuzu, Nougat und Karamell gereicht. Die Passionsfrucht-Creme mit exotisch marinierten Bananen, Tapiokaperlen, Ananas-Tamarinden-Sorbet und Vanille-Espuma unter einigen karamellisierten Kakao-Krümeln ist unser aparter Favorit.
Auch wenn der Fotograf für das eher monochrome Dessert im Cocktailglas im Gegensatz zur kontrastreichen Optik von Mandarine und Schokolade auf dunklem Teller deutliche Worte findet: „Das ist das hässliche Entlein unter den Desserts.“ Man muss eben nicht alles auf einmal haben – das große Glück liegt manchmal gerade im Unscheinbaren und ganz nah.