Machine Head gilt als Trendsetter im Bereich der beinharten Rockmusik. Seit über 25 Jahren spielt das Quartett aus dem kalifornischen Oakland eine Mixtur aus Thrash Metal, Heavy Metal und Progressive Rock. Ihr detailverliebter Sound bescherte ihnen zahlreiche Charterfolge und eine Grammy-Nominierung. Frontmann Robert Flynn über das aktuelle Album „Catharsis".
Herr Flynn, in Ihrem Album „Catharsis" gibt es viele ruhige und akustische Momente. Haben Sie gänzlich neue Seiten an sich entdeckt?
Das glaube ich nicht. Solche Momente gibt es auf all unseren Platten. Machine Head gilt als wirklich harte Band, aber wir haben auch eine weiche Seite. Das wird vielleicht ein bisschen übersehen. Diesmal haben wir uns neue Horizonte erschlossen, indem wir noch mehr mit Melodien und Grooves experimentierten. Es ging uns nicht darum, noch schneller und härter zu werden, sondern wir wollten noch tiefer in die Musik eindringen. Trotz aller Härte ist es eine sehr poppige Platte geworden. Dass ich John Lennons und Paul McCartneys Gesangsharmonien liebe, hört man Songs wie „Behind The Mask" deutlich an.
Was brauchen Sie, um kreativ zu sein?
Disziplin. Ich stehe jeden Morgen um halb fünf auf. Das ist für mich die beste Zeit, um zu schreiben, weil meine Familie dann noch schläft. Manchmal schreibe ich drei Songs hintereinander, manchmal fällt mir monatelang nichts ein. Der schwierigste Teil meines Jobs ist, konzentriert zu schreiben in dem Bewusstsein, dass man das Meiste wieder verwirft. Aber ab und zu gelingt einem etwas Magisches. Deshalb macht man immer weiter.
Ist „Catharsis" Ihr „weißes" Album?
Es ist definitiv nicht das „White Album" der Beatles. Ich hasse diese Platte! Ich habe sie mir vor Kurzem noch einmal intensiv angehört und festgestellt, dass sie mir ziemlich auf die Nerven geht. Es sind ein paar gute Songs drauf wie „Helter Skelter", aber insgesamt ist es mir zu verschroben. Nichtsdestotrotz sind wir an unsere Platte genauso angstfrei herangegangen wie die Beatles ans „White Album". „Catharsis" enthält ein paar verquere Nummern, die für unsere Verhältnisse ziemlich untypisch sind. Für mich sind das Diamanten. Die findet man nicht oft.
Ein Song heißt „California Bleeding". Was stimmt mit Kalifornien nicht?
Der Song ist nicht ganz ernst gemeint und beschreibt mein zwiespältiges Verhältnis zu meiner Heimat. Das Leben dort ist extrem teuer und der Verkehr ein Alptraum! Darüber habe ich einen lustigen Protestsong geschrieben, den man auf jeder Party spielen kann. Auch Feiern ist eine Form von Katharsis.
Hat das Musikmachen einen reinigenden Effekt auf Sie?
Musik im Allgemeinen hat auf mich einen kathartischen Effekt, seit ich denken kann. Mit 16 fing ich an, mir regelmäßig Thrashmetal-Bands anzuschauen. Später gründete ich eine eigene Band und begann, Songs zu schreiben. Jetzt erscheint meine elfte Platte. Sie ist wie ein Marathon durch meine Gefühlswelt. Es gibt Party-Stücke wie „California Bleeding", politische Songs wie „Bastards" und traurige Nummern wie „Psychotic" oder „Eulogy". Der Titel „Catharsis" fasst das sehr treffend zusammen.
Wie fühlen Sie sich in Kalifornien?
Unser Gouverneur Jerry Brown ist spitze! Er führt einen heiligen Krieg gegen Donald Trump. Kalifornien ist der bevölkerungsreichste Staat der USA. Hier treffen die unterschiedlichsten Kulturen aufeinander: Schwarze, Schwule, Hispanos. Das ist für uns überhaupt keine große Sache im Gegensatz zu anderen, weniger verdichteten Orten in Amerika.
Verbergen sich hinter Ihren harten Rhythmen oftmals Protestsongs?
Aber ja. Ich bin dennoch kein Rebell. Das ist ein abgedroschenes Wort. Ich bin ein Künstler, der darüber schreibt, was er beobachtet. Und ich mag provokative Texte, wobei ich zugeben muss, dass ich 35 Jahre lang über denselben Scheiß gesungen habe. Ich bin mit Punkrock und Hip-Hop sozialisiert worden und habe jetzt versucht, diese derbe Sprache auf unsere Texte zu übertragen. Sie sind zuweilen etwas vulgär. Aber das muss so sein. Es macht unsere Musik noch mächtiger. Ich habe keine Lust, mich hinter Metaphern oder einer biblischen Sprache zu verstecken.
Hat Rockmusik noch immer die Kraft, die Gesellschaft zu verändern?
Musik hat heute nicht mehr die Bedeutung wie in den 60er- und 70er-Jahren. Das ist eine Schande. Aber es ist, wie es ist. Es gibt nicht mehr viele Künstler, die kein Blatt vor den Mund nehmen. Das ist ein echtes Problem. Pop-Bands singen immer nur über die Liebe. Das ist nicht allein die Schuld der Künstler. In den 60er- und 70er-Jahren gab es nur drei Fernsehsender. Wir hatten kein Netflix, keine DVDs, kein Internet, aber ganz viel Zeit für Musik. Damals ist eine Menge verrücktes Zeug erschienen. Heute hingegen regiert der Konsum vor der Kreativität. Aber das heißt nicht, dass es nie wieder einen Song geben wird, der alles verändert.
Wie kam es zu dem Song „Bastards"?
Er basiert auf einem Gespräch, das ich zwei Tage nach der Wahl Donald Trumps mit meinen beiden Söhnen geführt habe. Es war eine ziemlich laute und
intensive Unterhaltung und ich sagte zu ihnen: „Manchmal gewinnen leider die bösen Jungs." Am nächsten Tag schrieb ich den Text zu „Bastards". Er musste einfach raus. Dazu spielte ich vier Akkorde auf meiner akustischen Gitarre. Es ist im Grunde ein simpler Folksong. Es gibt nichts Besseres, um eine Geschichte zu erzählen.
Wie alt sind Ihre Söhne?
Zehn und dreizehn. Sie haben natürlich mitbekommen, dass ich mich zum Thema Rassismus im Metal geäußert habe. Und ich habe ihnen erklärt, was bei den US-Präsidentschaftswahlen so alles passiert ist. Ich glaube nicht, dass sie alles verstanden haben, und manches möchte ich erst gar nicht an sie heranlassen.
Was hat Ihren Blick auf die Welt geprägt?
Mein Vater hat mich mehr geprägt als jeder andere. Er hatte eine ziemlich harte Kindheit. Seine Mutter war Alkoholikerin und mein Vater wurde bei der Geburt auf Geheiß der Behörden von seinem Zwillingsbruder getrennt. Seine Eltern hatten die Kontrolle über ihr Leben verloren. Erst vier Jahre später durften die Brüder zurück zu ihren Eltern, die in der Zwischenzeit häufig umgezogen waren. Sie gehörten zur weißen Unterschicht und lebten in einem Wohnwagen.
Und wie sind Sie aufgewachsen?
Vier Querstraßen entfernt von der Wohnwagensiedlung, in der mein Vater aufgewachsen ist. Mir war meine Herkunft von Anfang an sehr bewusst. Mein Vater ist dann mit 18 in die Army eingetreten und leistete seinen Wehrdienst bis zum letzten Tag ab. Als er entlassen wurde, begann der Vietnamkrieg und mein Vater protestierte dagegen. Er hielt Krieg für den falschen Weg. Eine seltsame Einstellung für einen ehemaligen Soldaten. Aber viele waren so wie mein Vater. Dass er aus seiner Einstellung keinen Hehl machte, hat mich sehr beeinflusst. Er tat einfach das, was er für richtig hielt.
Waren Sie ein guter Schüler?
Meine Leistungen waren okay. Ich war ein sehr introvertierter Junge mit nur wenigen Freunden. Aber ich wollte schon damals auf der Bühne stehen und den „Peter Rabbit" (Anm. d. Red.: Kinderbuchfigur) spielen. An der Highschool fing ich an, mich für Hardrock und Metal zu interessieren. Ich entdeckte Bier und Marihuana für mich, und meine Noten wurden immer schlechter. Ich schwänzte den Unterricht, um mit meinen Freunden in der Garage meines Vaters zu jammen, während er auf der Arbeit war. Meinen Abschluss habe ich trotzdem geschafft.
Welche Bedeutung hat der alte Leitsatz „Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll" für Sie heute?
Rock ’n’ Roll ist definitiv etwas von gestern, aber ohne Sex würde die Welt sich nicht weiterdrehen. Jeder liebt ihn, jeder braucht ihn, aber niemand will darüber sprechen. Sex war einer der Gründe, weshalb ich in einer Band spielen wollte. Und es hat sich wirklich rentiert! Vorher dachte ich, ich könne nie so sein wie diese harten, aggressiven Typen, auf die alle Mädchen stehen. Aber die Musik war immer ein großer Katalysator. Ich habe echt viele Drogen genommen, als ich jung war.
Und heute?
Ich bin 50. Das geht nicht mehr. Und überhaupt müsste der Leitsatz heute lauten: Sex, Drugs and Music. Zum ersten Mal in der Geschichte der populären Musik in Amerika haben Pop und HipHop den Rock überholt.
Wie haben Sie Ihre Schüchternheit überwunden?
Die erste Zeit spielte ich auf der Bühne nur Gitarre. Ich habe mich regelrecht dazu gezwungen, meine Schüchternheit zu überwinden. Ich wollte unbedingt ein Frontmann werden. Da kannst du nicht introvertiert sein. Die Therapie hat funktioniert. Aber es dauerte fünf Jahre, bis ich an mich geglaubt habe. Man muss davon überzeugt sein, dass man es besser kann als die anderen.
Was hat Sie zu dem Song „Psychotic" inspiriert?
Irgendeine dunkle, hässliche Scheiße, Mann! Als ich diese schauderhaften Worte niederschrieb, war ich selbst überrascht. Verdammt abscheulich! Zuerst passte der Text nicht zu der Musik, die ich dafür vorgesehen hatte. Also dachte ich mir etwas Neues aus und plötzlich floss es. Wir Songschreiber wissen oft überhaupt nicht, was wir tun. Auch wenn wir gern das Gegenteil behaupten. Früher habe ich versucht, auf Drogen Texte zu schreiben. Als ich sie mir ein paar Tage später noch einmal durchlas, fand ich sie total scheiße. Ich bin am besten, wenn ich einen klaren Kopf habe.
Auf Tour spielen Sie nach Ihren eigenen Regeln. Was bedeutet das?
Es bedeutet, Nein zu sagen. Wir spielen bei der „An Evening With"-Tour keine Festivals und es wird keine Vorgruppen geben. Wir haben 2015 mit dreistündigen Shows angefangen. Das hat nicht nur die Band wiederbelebt, sondern auch unsere Musik. Wir begannen, Songs zu performen, die 15 Jahre lang brachlagen. Die Fans reagierten euphorisch. Eine sehr befreiende Erfahrung.