Ob im Beruf oder im Privatleben: Manchmal will der gute Einfall nicht gelingen. Mit den richtigen Techniken lässt sich Kreativität aber auch bis zu einem gewissen Maße erlernen.
Fast jeder kennt diese Situation: Die Zeit ist knapp, der Kopf raucht, aber die entscheidende Idee will einfach nicht kommen. Kreativität lässt sich scheinbar nicht erzwingen. Die Ideen kommen, wann sie wollen oder eben auch nicht. Dabei ist man sich in der Wirtschaft einig: Wer Karriere machen will, braucht sie, die guten Einfälle.
Wie also funktioniert Kreativität, und warum scheinen manche Menschen Ideen wie am Fließband zu produzieren, während sich andere quälen und nicht vorankommen?
Unter Kreativität versteht man die Fähigkeit eines Individuums oder einer Gruppe, in fantasievoller und gestaltender Weise zu denken und zu handeln. Schon der Begriff scheint abstrakt, und auch die Forschung tut sich schwer, valide Ergebnisse zu erzielen. Ideen und Kreativität seien nur schwer in einen Rahmen zu bringen, argumentieren Wissenschaftler. Dennoch versuchen sie zu entschlüsseln, was genau im Gehirn passiert, wenn jemand kreativ ist.
Der Gedächtnisspeicher wird angezapft, während der sogenannte präfrontale Kortex, also das Kontrollzentrum, ruhig ist. Diese Ruhe im Kontrollzentrum scheint besonders wichtig. In normalen Denksituationen ist es stark aktiviert, und das Gehirn ist nicht in der Lage, bereits gespeicherte Informationen neu zu kombinieren. Das heißt, es braucht zur Kreativität zum einen vorhandenes Wissen und zum anderen ein Kontrollsystem, das beim Denkprozess nicht hemmend oder strukturierend eingreift. Zu viele Informationen wiederum können hindernd sein, zu wenige machen Kreativität unmöglich. „Wer über Mathematik nichts weiß, wird nie eine Lösung für ein mathematisches Problem finden. Für Kreative ist das manchmal ein Schock. Viele denken, dass sie nichts wissen müssen, um kreativ zu sein. Aber das stimmt einfach nicht", erklärt es der Neurowissenschaftler Lutz Jäncke von der Universität Zürich. In Experimenten hemmen Forscher ganz gezielt den präfrontalen Kortex. Das funktioniert zum Beispiel mit Hilfe von Magnetfeldern hoher Intensität oder Gleichstrom. Die Ergebnisse bestätigen die Theorie: Ist das Kontrollzentrum gehemmt, sind Probanden deutlich kreativer.
Auch nach dem Sitz der Kreativität im Gehirn suchen Wissenschaftler seit Jahrzehnten. Mittels Hirnscans konnten sie nachweisen, dass beim Lösen kreativer Aufgaben verschiedene Areale aktiv sind. Ebenfalls eine Rolle spielt die Geschwindigkeit, in der das Gehirn arbeitet. Beim Messen von Hirnströmen zeigte sich, dass kreative Menschen schnell zwischen einer niedrigen und einer hohen Geschwindigkeit hin- und herwechseln können. Daher geht die Forschung davon aus, dass der kreative Prozess aus mehreren Phasen besteht.
Kreativer Vorsprung
Insgesamt lassen sich vier solcher Phasen unterscheiden: die Präparation, die Inkubation, die Illumination und die Verifikation. In der Phase der Präparation entsteht ein Bewusstsein für das Problem. Der Mensch sammelt Wissen und setzt sich intensiv mit der Thematik auseinander. Je mehr Wissen und Vorerfahrung er einbringen kann, desto wahrscheinlicher ist eine kreative Lösung. Die Inkubations-Phase wird häufig auch als die „schöpferische Phase" bezeichnet. Das Gehirn arbeitet an einem Problem und das häufig, ohne dass es dem Menschen bewusst ist. In der dritten Phase, der Illumination, kommt es dann zu einem plötzlichen Einfall. Oft wird er auch als ein „Aha-Erlebnis" bezeichnet und empfunden, das den Denkprozess zur Lösung bringt. In der vierten und letzten Phase, der Phase der Verifikation, geht es dann darum, zu beurteilen, wie brauchbar die erdachte Lösung ist.
Wenn der kreative Denkprozess erfolgreich war, existiert nun ein sogenanntes kreatives Produkt. Charakterisiert wird es durch das Merkmal der Neuartigkeit für sich und andere. Manche Forscher fordern auch, die Kriterien Nützlichkeit, Originalität und Realitätsangepasstheit in den Merkmalskatalog aufzunehmen.
Aber nicht nur der kreative Prozess und das kreative Produkt lassen sich definieren. Die Wissenschaft liefert auch Antworten auf die Frage, was kreative Menschen ausmacht und ob es Menschen gibt, die kreativer sind als andere. Die Harvard-Psychologin Shelley Carson schreibt in „The Unleashed Mind", dass genetische Variationen dazu führen, dass das Gehirn mancher Menschen offener für neue Gedanken und Verhaltensweisen ist. Bei der durchschnittlichen Person würden diese Gedanken und Verhaltensweisen nicht den Weg durch den „mentalen Filter" finden. Aber auch Übung, Training und die Konfrontation mit ungewöhnlichen oder unbekannten Ideen und Experimenten spielen eine bedeutende Rolle. Manche Menschen haben auch von Geburt an eine Art kreativen Vorsprung. So berichten die Psychologie-Professorinnen Jennifer Drake und Ellen Winner in „Predicting Artistic Brilliance" von einem Zweijährigen, der tagelang akribisch an einem einzigen Bild gearbeitet hat und von einem sechs Jahre alten Kind, das realitätsgetreue Dinosaurier malen konnte.
Laut dem Psychologen Joy Paul Gilford zeichnen sich kreative Persönlichkeiten durch eine erhöhte Sensitivität gegenüber Problemen aus. Ihr Denken ist sehr flüssig. Sie sind etwa in der Lage, innerhalb kürzester Zeit vielerlei Verwendungsmöglichkeiten für einen Ziegelstein zu finden. Darüber hinaus verfügen sie über eine große Originalität und Flexibilität des Denkens.
Einer der bekanntesten Kreativitätsforscher, Mihaly Csikszentmihalyi, hat herausgefunden, dass besonders kreative Personen oft vermeintliche Gegensätze in sich vereinen. So seien sie energiegeladen und gleichzeitig ruhebedürftig. Sie können viele Stunden arbeiten, sich sehr gut konzentrieren und euphorisch sein. Danach benötigen sie allerdings Ruhe, um ihre Batterien wieder aufzuladen und schlafen oft und viel. Auch hinsichtlich der Persönlichkeitsmerkmale Extraversion und Intraversion liefert die psychologische Forschung Anlass zu der Annahme, dass kreative Menschen beides in sich vereinen. Nicht zuletzt entsprechen sie oft nicht den klassischen Geschlechterrollen. So seien kreative Mädchen oft taffer und dominanter als ihre Geschlechtsgenossinnen, wohingegen Jungs häufig sensibler und weniger aggressiv seien.
Neben den Vorteilen, die die Kreativität mit sich bringt, kann es in der Persönlichkeit besonders kreativer Menschen aber auch Schattenseiten geben. Nicht umsonst gibt es die Stereotypen des exzentrischen Künstlers oder des wahnsinnigen Genies. Dieselben genetischen Variationen, die das Gehirn offener für Gedanken und Verhaltensweisen machen, erklären, warum manche Kreative mitunter exzentrisch sind oder an seelischen Krankheiten leiden. Zudem neigen kreative Menschen eher zur Lüge. Jeffrey Walczyk, Psychologe an der Universität in Louisiana, hat gemeinsam mit Kollegen eine Studie durchgeführt, bei der sie Probanden mit typischen Alltagsproblemen konfrontiert haben. Um die Situation schnell zu lösen, bedienten sich kreative Menschen häufiger der Lüge. Sie gingen gewissermaßen kreativ mit der „Wahrheit" um. Die Zusammenhänge liegen auf der Hand, auch fiktionale Romane oder Filme sind letztlich künstlerisch gut gesponnene Lügengeschichten.
Raus an die frische Luft
Grundsätzlich, sagt Shelley Carson, hat jeder Mensch das Potenzial, kreativ zu sein. Denn obwohl manche Gehirne von Natur aus schneller zwischen verschiedenen Mustern wechseln können, ist Kreativität eine lernbare Fähigkeit. „Auch wenn Übung und Training nicht aus jedem Menschen einen Einstein machen können, können sie definitiv jedes Gehirn kreativer machen", sagt die Psychologin.
Wie also kann man diese Fähigkeit lernen oder trainieren? Der Schweizer Psychiater und Kreativitätsforscher Gottlieb Guntern rät zu Entspannung und Zerstreuung. Dadurch könnten kreative Gedanken blühen. Das ist der Grund, warum sie oft beim Joggen, unter der Dusche oder beim Schlafen kommen. Forscher konnten sogar belegen, dass der Dämmerzustand, also die Zeit kurz vor dem Schlaf, kreativitätsfördernd ist. Der Grund: In dieser Zeit ist der Mensch am unproduktivsten. Der Dämmerzustand eignet sich daher gut für kreatives Gedankengut, analytische Fragestellungen löst man in dieser Zeit besser nicht.
Auch Spazieren oder einfaches Gehen macht kreativ. Wissenschaftler der Universität Standford konnten zeigen, dass der Mensch so zu besseren Ideen kommt und der Erfindergeist angeregt wird. Für ihre Studie ließen sie zwei Probandengruppen überlegen, was sie mit bestimmten Objekten, wie einem weißen Schalter, anstellen könnten. Während die eine Gruppe in einem kleinen, weißen Raum sitzen sollte, wurde die andere Gruppe eine Runde an die frische Luft geschickt. Das Ergebnis: 100 Prozent der Spaziergänger kamen danach mit mehr und kreativeren Ideen zurück.
Um die Kreativität in Gang zu bringen, eignen sich auch zahlreiche Techniken wie etwa Mindmaps, Brainstorming oder Brainwriting. Shelley Carson empfiehlt, sich immer neue Möglichkeiten zu suchen, dazuzulernen: lesen, Kurse belegen, ein Instrument lernen oder neue Rezepte ausprobieren. Dabei sei es wichtig, die neuen Lerninhalte nicht zu bewerten. Je offener man im Geist bleiben könne, desto eher könnten neue Informationen einmal zu kreativen Ideen und Lösungen beitragen.