Die Entwicklung könnte nicht weiter auseinanderklaffen: Gefühlt nimmt die Unsicherheit zu, statistisch nimmt die Kriminalität ab. Der Guru der Kriminologie, Prof. Dr. Christian Pfeiffer, untersucht das Phänomen – mit teils überraschenden Erkenntnissen.
Ein Blick in die polizeiliche Kriminalstatistik dürfte nicht selten für Überraschung sorgen. „Schauen wir uns zum Beispiel die Raubdelikte der vergangenen 20 Jahre an", schlägt Kriminologe Christian Pfeiffer vor. Nachzulesen ist dort: Im Jahr 1997 belief sich die Anzahl der Raubdelikte auf insgesamt 70.000. Zehn Jahre später verzeichnete das Kriminologische Forschungsinstitut in Niedersachsen – zu diesem Zeitpunkt ist Pfeiffer noch Direktor – die Anzahl der deutschlandweit registrierten Raubdelikte auf 54.000 Fälle. Im Jahr 2016, also vor genau zwei Jahren, erreichte Deutschland mit 43.000 Fällen den niedrigsten Stand, der seit der Wiedervereinigung gemessen wurde. „Insgesamt verzeichnen wir also einen Rückgang um 38 Prozent", zieht Pfeiffer Bilanz. „Das spiegelt wider, was sich in den vergangenen 20 Jahren in diesem Land getan hat."
Bei der Statistik vollendeter Sexualmorde, einer Vergewaltigung mit anschließender Tötung – „also etwas, was die Bürger bei unserer Befragung als schlimmstes Verbrechen empfinden"– wird der Rückgang noch viel deutlicher. Mitte der 80er Jahre belief sich die Anzahl solcher Sexualmorde auf insgesamt 55 Fälle, „im vergangenen Jahr verzeichneten wir dann nur noch sieben solcher Delikte in ganz Deutschland. Das ergibt einen drastischen Rückgang um fast 90 Prozent", betont Pfeiffer.
Eigentlich ein Grund, etwas entspannt mit der Entwicklung umzugehen. Doch die gefühlte Realität sieht anders aus. „Die Menschen scheinen sich nicht mehr sicher zu fühlen in unseren Städten und Gemeinden", zitiert Pfeiffer anlässlich einer Diskussion über die Saarbrücker Sicherheitslage aus einem Brief, adressiert an den saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans und die Oberbürgermeisterin Charlotte Britz. Darin beklagt der saarländische Einzelhandelsverband die mangelnde Sicherheit. „Vielleicht ist es bei der tatsächlichen Sicherheitslage noch fünf vor zwölf, gefühlt ist es bereits fünf nach zwölf", gibt Pfeiffer wortgenau den Schluss des Schreibens wieder.
„Ich dachte mir zunächst nur: Was für ein horrender Quatsch", kommentiert der Kriminalexperte und ehemalige niedersächsische Justizminister bewusst polemisch die von ihm vorgetragenen Zeilen. Woher rührt also dieses Gefühl der Unsicherheit im eigenen Land, und wieso kommt der Verband überhaupt zu dieser Überzeugung?
Pfeiffer sieht hierfür gleich mehrere Gründe. Einen Teil der Schuld sieht der Experte bei den Medien. „Viele Journalisten erkranken an dem, was so typisch für diese Berufsgruppe ist – am Immer-Schlimmerismus." Demnach stürzen sich die Medien gezielt auf negative Nachrichten und lassen dafür positive Tendenzen außer Acht. „Zum Beispiel wird ein und dieselbe negative Nachricht, wie etwa schwerer Überfall oder Mord, auf die unterschiedlichste Weise verarbeitet", erklärt der Experte. Bei manchen Lesern entsteht dadurch der Eindruck, dass es sich nicht um das gleiche, sondern viele unterschiedliche Verbrechen handelt. Erschwerend hinzu kommt die „Macht der Bilder", wie Pfeiffer das Phänomen beschreibt. „Liest man zum Beispiel seinen Kindern Märchen der Gebrüder Grimm vor, so schlafen die Kleinen ruhig ein." Dabei geht es bei diesen Erzählungen ziemlich hart zu: Hänsel und Gretel verbrennen die Hexe, beim Rotkäppchen schneidet der Jäger den Wolf auf, um die Großmutter herauszuholen. „Würde man den Kindern diese martialischen Bilder tatsächlich vor Augen führen, dann würden sie vermutlich eine Panikattacke bekommen und gar nicht mehr einschlafen." Diese Wirkung lässt im Alter nicht nach. So fand der Experte unter anderem heraus, dass Menschen, die mit Vorliebe bestimmte Programme bevorzugt im Privatfernsehen konsumieren, mehr Ängste haben, als die, die sich für nicht kommerzielle Fernsehprogramme entscheiden.
Der Umgang mit Zahlen ist oft fragwürdig
Ein weiterer wichtiger Punkt ist für Pfeiffer der Umgang der Politik mit Daten und Statistiken. „Meistens bekommen die Bürger nur die aktuellen Zahlen oder im besten Fall einen Vergleich zum Vorjahr", bedauert der Kriminologe. Dabei sei es sehr wichtig, einen gesamten Überblick über die Entwicklung solcher Kriminalstatistiken zu bekommen. „Wenn wir wenigstens zehn Jahre vergleichen würden, würden wir erkennen, dass zum Beispiel die Jugendgewalt drastisch gesunken ist. So wie die schwere beziehungsweise gefährliche Körperverletzung. Auch hierbei sind die Zahlen schon lange rückläufig. Nur die einfache Körperverletzung ist nach wie vor leicht ansteigend. Das kann aber wiederum etwas mit der veränderten Anzeigebereitschaft zu tun haben." Betroffene gehen bei „Fremden" nämlich häufiger zur Polizei als bei Einheimischen. „So wird die Gewaltkriminalität bei Flüchtlingen doppelt so häufig angezeigt", weiß Pfeiffer. „Das heißt, die Sichtbarkeit wird deutlicher höher." Denn eines gilt: „Max verhaut Moritz, Anzeigepunkte so um die 13 Prozent. Max gegen Mustafa, schon steigen die Anzeigepunkte auf 30 Prozent. Verhaut dagegen Mehmed den Mustafa, so liegt die Anzeigebereitschaft bei zehn Prozent." Dabei richtete sich die Gewalt von Flüchtlingen überwiegend gegen andere Ausländer: „Von 100 Tötungsdelikten, die von Flüchtlingen begangen wurden, waren 91 Prozent gegenüber anderen Flüchtlingen. Der Tatort war dabei das Flüchtlingsheim." Aber auch diese Tendenz hat sich zwischenzeitlich geändert.
„Es gibt aber einen Bereich, der ist stark bei den schweren Delikten angestiegen", berichtet Pfeiffer, „und das ist die Vergewaltigung." Wobei es sich, wie er es nennt, um einen „statistischen Irrtum" handelt. Mit dem Sexualstrafrecht „Nein heißt Nein!" – einem vom ehemaligen Justizminister Heiko Maas überarbeiteten Vergewaltigung-Paragrafen – werden jetzt Vorfälle, die früher als Beleidigung eingestuft wurden, als wesentlich gravierender höhergestuft und entsprechend in der Statistik aufgenommen. „Somit erhöhte sich nicht das Risiko für Frauen, sondern die Definition und die Bewertung des Staates."