Der vor 170 Jahren geborene Otto Lilienthal war einer der wichtigsten Pioniere der Luftfahrt und des Flugzeugbaus. Er war der erste, der einen durch die Luft gleitenden Apparat zur Serienreife entwickelte. Bei einem seiner fliegenden Selbstversuche kam er im August 1896 ums Leben.
Fliegen war zwar schon immer ein Menschheitstraum gewesen. Bereits seit der Antike hatten Gelehrte versucht, ihn wahr zu machen. Doch was selbst einem Renaissance-Genie wie Leonardo da Vinci nicht gelang oder wobei ein Vorläufer wie der „Schneider von Ulm" alias Albrecht Ludwig Berblinger 1811 mit einem selbst gebastelten Gleiter fast zu Tode kam, das sollte erst der systematische Tüftler Lilienthal Ende des 19. Jahrhunderts schaffen. „Es ist ein unbeschreibliches Vergnügen, hoch über den sonnigen Berghängen sich zu wiegen. Nur von einer leisen Harfenmusik begleitet, welche der Luftzug den Spanndrähten des Apparates entlockt." Aus diesen Worten lässt sich auch heute noch unschwer die Begeisterung ablesen, die den am 23. Mai 1848 in der Hansestadt Anklam geborenen Karl Wilhelm Otto Lilienthal als weltweiten Flugpionier erfasst hatte.
In den seit dem 18. Jahrhundert bekannten Heißluftballons, aus denen bald schon die Luftschiffe hervorgehen sollten, sah Lilienthal nie die Lösung des Flugproblems. Ganz einfach, weil diese noch gemäß dem Prinzip „Leichter als Luft" konzipiert waren, was nichts anderes bedeutete, als dass ihr Auftrieb nur durch Gase wie Helium und Wasserstoff oder auch durch Heißluft erreicht werden konnte. Lilienthals große Leistung bestand darin, dem „Schwerer als Luft"-Prinzip der modernen Fliegerei zum Durchbruch verholfen zu haben – durch Konzipierung von Apparaten, die ihren Auftrieb letztlich gewölbten Tragflächen verdankten. Die Mehrzahl seiner Zeitgenossen sollte über Lilienthals aus dem Studium des Vogelflugs und der Ausbildung der Vogelflügel abgeleiteten Erkenntnis nur spotten: Denn wie sollte etwas, was schwerer als Luft ist, fliegen können?
Erste Flugversuche im Alter von 14 Jahren
Otto Lilienthal war das älteste von acht Kindern des Tuchhändlers Carl Friedrich Gustav Lilienthal und dessen Ehefrau Caroline. Fünf seiner Geschwister sollten früh sterben, es blieben ihm nur sein ein Jahr jüngerer Bruder Gustav und seine Schwester Marie. Nach dem Tod des Vaters 1861 musste der aufgrund großer finanzieller Probleme entworfene Plan einer Auswanderung nach Amerika aufgegeben werden. Stattdessen mühte sich die Mutter nach Kräften, ihre Familie über die Runden zu bringen und ihren Kindern eine solide Ausbildung zu ermöglichen. Die beiden Söhne besuchten ab 1856 das Gymnasium in Anklam. Otto glänzte dabei nicht wirklich. 1864 wurden dem damals 16-Jährigen im Zeugnis der mittleren Reife nur mäßige Leistungen bescheinigt.
Schon in diesen frühen Schuljahren soll er gemeinsam mit seinem Bruder ausgiebig Vogelflugstudien betrieben und sich im Alter von 14 Jahren erstmals spielerisch mit Flugversuchen beschäftigt haben – wofür sich die beiden Jungen Bretter an die Arme geschnallt hatten und flügelschlagend über die Felder gerannt waren.
Nach dem Wechsel auf die Provinzial-Gewerbeschule in Potsdam, wo junge Männer zu Technikern ausgebildet wurden und Lilienthal aus Kostengründen als „Schlafgänger" sein Bett abwechslungsweise mit anderen Herren teilen musste, wurden seine Noten schlagartig besser. 1866 erhielt er sein Reifezeugnis „mit Auszeichnung" und nahm nach einem Praktikumsjahr in der Berliner Maschinenfabrik Schwartzkopf 1867 ein Studium des Maschinenbaus an der Königlichen Gewerbe-Akademie in Charlottenburg auf – einer Vorgängereinrichtung der heutigen Technischen Universität. Dank eines Stipendiums von jährlich 300 Talern konnte er sich in der Freizeit weiteren Flugstudien samt Entwicklung von zwei Flügelschlag-Apparaten in den Jahren 1867/68 widmen und im Juli 1870 sein Examen ablegen. Anschließend nahm er als Freiwilliger am Deutsch-Französischen Krieg teil.
Lilienthal meldete 25 Patente an
1871 begann er seine Berufstätigkeit als Ingenieur in der von Emil Rathenau geleiteten Berliner Maschinenfabrik M. Weber, um schon nach einem Jahr als Konstruktionsingenieur zur Berliner Fabrik C. Hoppe zu wechseln, wo er acht Jahre lang an der Entwicklung von Maschinen für den Bergbau mitarbeitete. Darunter war eine Schrämmaschine, für die Lilienthal 1877 eines seiner insgesamt 25 Patente erhielt, von denen jedoch nur vier dem Bereich Luftfahrt zuzurechnen sind.
Zwischen 1871 und 1875 führten die beiden Lilienthal-Brüder, die seit 1873 Mitglieder der Aeronautical Society of Great Britain waren, im Zuge ihrer Flugstudien systematische Messungen zum Auftrieb an ebenen und gewölbten Flächen durch. Schon 1874 konnten sie dabei das eindeutige Ergebnis ermitteln, dass gewölbte Tragflächen, entsprechend der schwach gewölbten Vogelflügelform, im Vergleich zu ebenen Flächen ein Vielfaches an vertikalem Auftrieb ermöglichen können. Dies ist eines der Grundprinzipien der Aerodynamik und war den zeitgenössischen Physikern noch weitgehend unbekannt. Der breiten Öffentlichkeit teilte es Otto Lilienthal erst viel später mit, nämlich 1899 in seinem Opus „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst", das als wichtigste flugtechnische Publikation des 19. Jahrhunderts gilt.
Im Juli 1878 heiratete Otto Lilienthal Agnes Fischer, die Tochter eines Bergmanns. Das Paar hatte vier Kinder. Ein Jahr nach der Hochzeit entwickelte er gemeinsam mit seinem Bruder das erste Systemspielzeug, das als Anker-Steinbaukasten ein weltberühmter Bestseller werden sollte. Allerdings hatten sie ihre Erfindung wegen Vermarktungsproblemen vorschnell an den Unternehmer Friedrich Adolf Richter verkauft, der die Bausteine ab 1882 in Rudolstadt produzieren ließ. 1881 eröffnete Otto Lilienthal in Berlin eine eigene Werkstätte, die unter anderem dank eines patentierten Schlangenrohr-Dampfkessels ab 1883 schnell zu einem florierenden Maschinenbaubetrieb mit bis zu 60 Angestellten anwuchs, die von ihrem Chef, der sich in der Metropole auch als Theatermäzen betätigte, mit 25 Prozent am Gewinn beteiligt wurden.
21 Flugapparate selbst entwickelt
Dank seines Wohlstandes und seiner finanziellen Unabhängigkeit konnte sich Otto Lilienthal fortan intensiv der Fliegerei widmen, wobei sein Bruder nicht mehr mit von der Partie war. Nach Jahrzehnten der flugtheoretischen Untersuchungen an Vögeln und Flugmodellen wollte Otto Lilienthal nunmehr praktische Erfahrungen sammeln. Und begann daher mit dem Bau von großen Flügelgleitern, mit denen er selber fliegen konnte. Insgesamt soll er Zeit seines Lebens mindestens 21 verschiedene Flugapparate konstruiert haben. Für die Verstrebungen der Gleiter mit Spannweiten zwischen sechs und zehn Metern hatte er Weidenholz verwendet, das mit einem durch eine Gummilösung abgedichteten Baumwollstoff bespannt war. Nach dem Anlegen des Geschirrs seines Segelflug-Apparates wirkte Lilienthal wie ein Vogelmensch.
Bei seinen Flugversuchen übereilte er nichts. Von Stehversuchen im Wind 1890 bis hin zu ersten Hopsern von einem im Garten seiner Villa in Lichterfelde aufgestellten Sprungbrett verging ein ganzes Jahr. Im Sommer 1891 gelangen ihm vom Windmühlenberg in Derwitz westlich von Potsdam Flüge von bis zu 25 Metern. Auch in Berlin selbst testete er auf diversen Hügeln seine ständig verbesserten Gleiter, wobei es sich sowohl um Ein- als auch Doppeldecker handelte, die teilweise auch schon mit leichten Motoren für vorsichtige Flügelschläge ausstaffiert waren. 1894 ließ er in Lichterfelde aus Ziegelei-Abfällen eigens den 15 Meter hohen „Fliegeberg" errichten. Ein Jahr zuvor hatte er bei Tests in den rund 100 Kilometer nordwestlich von Berlin gelegenen Rhinower Bergen bei Stölln Flugweiten von bis zu 250 Metern zurücklegen können, wobei er bis zu 30 Sekunden in der Luft bleiben und sogar eine Kurve fliegen konnte.
Das löste Begehrlichkeiten in der weiten Welt aus – speziell nach der Konstruktion des „Normal-Segel-Apparates", der ab 1894 in Lilienthals Berliner Maschinenbaufirma als erstes Flugzeug des Globus in Serie gebaut wurde und für 500 Mark an acht Wagemutige, darunter den US-Zeitungsverleger William Randolph Hearst, verkauft werden konnte. Verstauchte Füße und lädierte Arme waren für Lilienthal bei seinen geschätzt mehr als 3.000 Flügen nichts Ungewöhnliches. Dennoch gab er seinen Kunden auf einem dem Gleiter beigefügten Beipackzettel den dringenden Rat: „Also bedenken Sie, dass Sie nur ein Genick zum Zerbrechen haben."
Halswirbelfraktur und Hirnblutung
Wäre er selbst etwas vorsichtiger gewesen, hätte er den tödlichen Unfall am 9. August 1896 am Hang des Gollenbergs bei Stölln vermeiden können. Zwar hatte der Wetterbericht ein stabiles Sommerhoch gemeldet, doch der Wind bereitete Lilienthals Mechanikern große Sorgen. Beim Start funktionierte das Fluggerät, das aus Sicht der Wissenschaftler des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums „eine aerodynamisch absolute saubere Konstruktion" war, tadellos. Doch dann ließ eine heftige Aufwind-Böe den Gleiter nach vorne kippen und unkontrollierbar abstürzen. Lilienthal erlitt eine Halswirbelfraktur und sollte nach Überführung in die Berliner Universitätsklinik dort am folgenden Tag sterben. Als eigentliche Todesursache wurde eine Hirnblutung angegeben.