Der Name ist schlicht: „Das Restaurant". Doch was Sternekoch Markus Semmler und sein Team in Wilmersdorf auf die Teller zaubern, ist das Gegenteil davon. Fans von intensiven Soßen und Liebhaber fein ziselierter Desserts kommen dort voll auf ihre Kosten.
Schade, dass der Mai schon vorbei ist! Nun kann ich Ihnen gar nicht mehr Maibock mit Spargel von Markus Semmler empfehlen. Das ist die schlechte Nachricht – auf dieses ungemein mürbe und dennoch konsistente Fleisch müssen Sie leider verzichten und sich gedulden, bis der nächste Rehbock geschossen ist. Vielleicht finden sich der angeräucherte Spargel und der wilde Brokkoli aber noch ein Weilchen weiter auf Karte und Tellern ein. Markus Semmler wird aus jedem Tier einen so intensiven Jus ziehen, wie der, der unser dunkelrotes Fleisch, Gemüse und ein Tamarillo-Chutney begleitete –
komprimiertes Reh mit eingekochtem Gröstl. Die gute Nachricht: „Das Restaurant", wie es schlicht heißt, bietet immer Frisches und Saisonales, das Markus Semmler mit seiner Kochkunst veredelt.
Man könnte allein schon wegen der Soßen zu Markus Semmler gehen. Ein paar Tropfen reichen, um glücklich zu machen. Mit einem Jus zu Taubenbrustfilet bei einem Four-Hands-Dinner mit Sascha Stemberg im Winter hatte mich Semmler neugierig gemacht auf ein nun „zweihändiges" Dinner vom Küchenchef. Doch halt: Darf ich überhaupt Küchenchef sagen? Natürlich. Auch wenn Semmler sich selbst anders bezeichnet: „Ich bin nicht Koch, ich bin Gastronom", sagt der 51-Jährige. „Ich bin immer mit draußen."
Stimmt. Ganz gleich, ob er und seine Crew das Menü im Restaurant auftischen, ob ein Michelin-Gala-Dinner, das Kochen mit befreundeten Küchenchefs an der „Langen Tafel" oder ein 1.000-Personen-Catering anstehen: Der Zwei-Meter-Mann ist häufig im Gespräch, draußen, mit seinen Gästen. In seinem Lokal, das er seit sieben Jahren in Wilmersdorf betreibt – gern auch auf eine Zigarette in den tiefen, dunklen Ledersofas der angeschlossenen Zigarren-Lounge.
Koch ist Semmler sowieso, allein von seiner Ausbildung her. Gastronom war er schon vorher. Das „Gasthaus Semmler" liegt heute zwar nicht mehr in den Händen der Familie, wurde im Nordhessischen aber „sechs oder sieben Generationen lang" von ihr betrieben. „Ich hatte Thekendienst, seit ich zehn war", fasst er knapp zusammen, was zwischen Familienfeiern, Stammtischen und Vereinsabenden wohl nicht immer eine klassische Kindheit war. „Bis zur Kochlehre hab’ ich nicht gekocht", erzählt der einzige zweifach – in den Jahren 1998 und 2016 – als „Berliner Meisterkoch" und seit 2015 mit einem Michelin-Stern Ausgezeichnete. Die Ausbildung fand ganz unschmuck, aber auf eineinhalb Jahre verkürzt, in einer Betriebskantine statt. „Da habe ich bald schon den Koch ersetzt."
Die Köchin in der Familie war die Großmutter. „An die Gänsesoße von meiner Oma komm’ ich nicht ran, obwohl ich ganz gut kochen kann", verrät Semmler. Den immer wieder von Oma begossenen, knusprigen Gänsebraten gab’s an Heiligabend, „am einzigen Tag, an dem wir alle zum Essen zusammenkamen". Die Mutter dagegen war – zeittypisch – ein Fan der schnellen Tüte und des Vorgefertigten. Das prägte: „Wer bei mir eine Tüte aufmacht, der wird erschlagen." Markige Worte, die für Finesse auf den Tellern sorgen, aber keine ernste Bedrohung des achtköpfigen festen Teams sind. Immerhin hält es Dennis Hein, „mein zweiter Mann", seit 23 Jahren an Semmlers Seite aus. Sicher auch, weil er über ein von seinem Chef geschätztes Feature verfügt: „Wir können miteinander kochen, ohne zu reden."
Und wenn es manchmal nur ein Stück Rhabarber ist. Streng genommen liegen ein Streifen gebeizter Eismeerforelle, ein bisschen getrocknete, angechipste Fischhaut, einige Tupfen Schafsjoghurt und Schnittlauchöl auf dem Teller. Plus der geschmorte und – Überraschung! – gesalzene Rhabarber. Der macht nachdrücklich „Peng" und verbindet den Schmelz des Fisches mit untergründiger, nur feiner Süße, aber ordentlich Säure und dem hinzugefügten Salz. Alles wird vom cremigen Schafsjoghurt wieder eingefangen. Ich sage: „Köstlich!" Ich dürfte sogar noch ganz Anderes sagen. „Ich habe überhaupt nichts gegen den viel geschmähten Ausdruck ‚lecker‘", betont Semmler.
Semmler nennt sich selbst „Instinktkoch"
Für Wohlbefindens-Bekundungen sorgt das fünfgängige Menü, das als einziges an vier Tagen in der Woche und für 113 Euro pro Person serviert wird. Die Karte wechselt alle sechs Wochen; alles kommt frisch auf den Tisch. „Es gibt nur noch einen Spargel-Bauern in Busendorf, der ohne Plane arbeitet, und so lange warten wir eben", erzählt Semmler. Saisongemüse reizt ihn, ganz gleich ob Rote Bete und Sellerie im Winter oder Rhabarber, Spargel und Erdbeeren im Frühjahr: „Es ist kurz da und fertig."
Was im kleinen Rahmen bei 28 Plätzen im Restaurant auf die Teller kommt, wird auch im großen für die Caterings gekocht, die Semmler und sein dann bis zu hundert Mann und Frau starkes Team regelmäßig ausrichten. „Egal, was wir im Restaurant machen, wir können in unserer Küche alles auch für 1.000 Leute kochen", sagt er. „Grundsätzlich wird alles frisch gekocht, und wir fangen damit erst zwei Tage vorher an."
An diesem ganz normalen Mittwochabend, an dem ein Regenguss ein Dinner auf der Terrasse verhindert, ist an so viel Andrang nicht zu denken. Wir sind uns sicher: Die rote Garnele, die uns zu Blumenkohlpüree, einem Schnitz Blumenkohl, einem Tupfen Avocado-Creme und einem Curry-Schaum erwartet, hat topfrisch ihr Wildwasser verlassen. Es ist ein kleines Kunstwerk, das uns Markus Semmler auf die helle Keramik zaubert: Das Curry ist der belebende Begleitakkord für das Meerestier. Ebenso gut benimmt sich ein Miso-Buchenpilz-Sud, in dem eine Jakobsmuschel mit Wakame-Spinatsalat und gepoppter Schweinehaut darauf wartet, von uns vernascht zu werden. Semmler weiß geschlossene Aromawelten zu schaffen: Es gibt sehr intensive Töne, aber nie erschlägt ein Aroma das andere. Das ist es wohl, was Semmler als „Instinktkoch" ausmacht, wie er sich bezeichnet.
Was im Kopf an Geschmacksbild entsteht, das sitzt, wenn es auf dem Teller herausgeht. „Hab’ ich ein Reh, mach’ ich Reh. Hab’ ich eine Gans, mach’ ich Gans." Große Konzeptentwicklung und Probekochen – eher unnötig. Und, ganz wichtig: „Die Emotionen müssen mit ins Gericht rein." Die kommen bei uns als Glück an und ins Glas. Wir tanzen durchgängig „Pas de deux" zum Essen. Die 2016er 50:50-Cuvée aus Chardonnay und Weißburgunder von Matthias Gaul wirft mit Honigmelone, Birne, Vanillehauch und leichter Holzigkeit vom Fass um sich. Die Duo-Trauben aus der Pfalz geben ein gutes, vollmundiges Gespann zum Essen ab.
Wir sitzen am Chef’s Table, am großen, ovalen Holztisch im hinteren Teil des lang gestreckten Gastraums, gleich neben dem Liegeplatz von Cuba, dem cognacfarbenen Rhodesian Ridgeback. Der Hund ist beinah so hochgewachsen wie sein Herrchen, hebt ab und an seinen Kopf auf Tischplattenhöhe und wirft einen gemachen „Alle noch da"-Blick in die Runde. Der Vorteil des Chef’s Table: In den roten Sesseln aus der gewissermaßen „letzten Reihe" können wir das Anrichten der Desserts an einer offenen Station im Raum beobachten.
Die Edelstahlflächen mit zahlreichen Boxen obenauf sind die Schaltzentrale von Andreas Pabst. Der Patissier schneidet hingebungsvoll Himbeergelee-Ringe aus Platten heraus, die Grundlage eines „Rhabarber-und-Himbeeren-in-jeder-Form-Desserts", wie ich es taufe. Als Schaum, Ragout, Sorbet, mariniertes Obst, Baiser und getrocknete Streifen kommen die Früchtchen zu uns. Auf dem Teller treffen sie sich mit einer Topfen-Crème brûlée und einer Topfen-Pannacotta. Das Innenleben des Himbeerrings wird am Tisch mit einem Schaum vom Rhabarber aufgegossen – ganz klar ein Dessert mit maximal vielen Arbeitsschritten, das wir gern in verschiedensten Zusammenstellungen auf die Löffel nehmen. Das Himbeerbaiser fällt mir sofort auf: Er ist so gar nicht zuckrig, sondern einfach schaumig explodierter Himbeergeschmack. „Da ist ja auch kein Zucker drin", erklärt Andreas Pabst, der stundenlang in freundlicher Unaufgeregtheit an seiner Station gewirkt hat. „Es besteht nur aus Himbeerpüree, Trocken-Eiweiß und Xanthan." Letzteres ist ein natürliches Verdickungsmittel, wie ich erfahre.
Ach, es lässt sich schon gut aushalten in Markus Semmlers Wohnstube! Der Mai macht winke, winke in Gestalt von hausgemachten Pralinen auf einer Etagere: Rhabarber, Erdbeere mit Joghurt und Mandeln verstecken sich in ihren Schokohüllen vor uns. Das nützt ihnen aber gar nichts. Dort, wo der Instinkt so viel zählt, lässt uns unser Spürsinn die Pralinen unverzüglich finden und sie zum Abschied genüsslich vernaschen.