Tiefgaragen für Fahrräder, Fahrradstraßen und -zähler. Tausende Radler, die täglich durch die Straßen fahren. Mit einem 20-Punkte-Plan hat sich das baden-württembergische Karlsruhe seit 2005 zur süddeutschen Fahrradhauptstadt entwickelt.
Der Zähler steigt im Sekundentakt: …1.397, 1.398, 1.399, 1.400. Doch er zählt nicht die vergangenen Sekunden des Tages, sondern die Fahrradfahrer, die an der rund zwei Meter hohen Säule vorbeihuschen. „Landesauszeichnung Fahrradfreundliche Stadt" steht unten, ein LED-Balken darüber zählt in diesem Jahr bislang fast 800.000 Radfahrer. Und ganz oben, nebst Datum, tickt das Gerät fleißig mit. Im Rahmen der Auszeichnung als „Fahrradfreundliche Stadt" im Jahr 2011 hat das Land Baden-Württemberg der Stadt Karlsruhe den Radzähler geschenkt. Der Landesverkehrsminister Winfried Hermann und der Karlsruher Bürgermeister Michael Obert nahmen sie 2012 offiziell in Betrieb. Schon im ersten Sommer zählte die Anlage monatlich etwa 150.000 Radfahrer. Nach dem ersten Jahr waren 1.446.000 Radfahrer erfasst.
Das Besondere an der Karlsruher Erbprinzstraße, in der der Zähler installiert ist: Sie ist eine reine Fahrradstraße. Ein Schild zu Beginn weist darauf hin. In regelmäßigen Abständen sind moosgrüne Fahrräder auf den Boden gemalt. Die Erbprinzstraße ist eines von vielen Beispielen dafür, dass Fahrradfahrer in Karlsruhe einen anderen Stellenwert haben als andernorts. Die badische Großstadt belegt im Ranking des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) der fahrradfreundlichsten Städte der Bundesrepublik den zweiten Platz. Nur das westfälische Münster ist besser. Im Karlsruher Rathaus sind sie stolz auf diese Auszeichnung. Jahrelang hat die Stadtverwaltung darauf hingearbeitet. Der Gemeinderat setzte sich im Oktober 2005 das Ziel, mit einem 20-Punkte-Programm den Fahrradverkehr in der Stadt und rundherum auszubauen. Warum, erklärt die Sprecherin der Stadt, Helga Riedel: „Wir haben in Karlsruhe den historischen Anspruch, als Stadt viel für den Radverkehr zu machen, weil der Erfinder des Fahrrads aus unserer Stadt kommt."
Tiefgarage für Fahrräder
Karl von Drais, ein Forstbeamter, war einst nicht nur in den Wäldern der Region zugange, sondern tat sich im Lauf seines Lebens immer wieder als hervorragender Erfinder hervor. Er entwickelte unter anderem das erste Fahrrad, mit dem er 1817 von Mannheim nach Schwetzingen auf Jungfernfahrt ging. Damals hatte es noch keine Pedale. Bald gab es öffentliche Fahrten, um das sonderbare neue Gefährt bekannt zu machen. Und das Zweirad trat seinen Siegeszug vom Badischen in die ganze Welt an. Es liegt nahe, dass das Fahrrad in kaum einer anderen deutschen Stadt so frequentiert zum Einsatz kommt, wie in der Geburtsstadt seines Erfinders.
Doch das ist nicht der einzige Grund dafür, dass die Karlsruher besonders gern mit dem Rad unterwegs sind, sagt Helga Riedel: „Der wirklich reale Grund ist der, dass wir auf stadtverträgliche Mobilität setzen." Eher unromantisch, aber wohlüberlegt also wollen die Karlsruher Stadtoberen dafür Sorge tragen, dass es ihren Bürgern gutgeht. „Wir sind bekannt für unseren vorbildlichen Öffentlichen Nahverkehr", sagt Riedel, „wir sind Carsharing-Hauptstadt Deutschlands, und da gehört es eben auch dazu, dass wir gezielt den Radverkehr fördern."
Zehn Straßenbahnminuten entfernt von der Erbprinzstraße liegt der Karlsruher Hauptbahnhof. Wer dort mit der Bahn ankommt und den Bahnhofsvorplatz betritt, steht einer Barriere aus Fahrrädern gegenüber. In allen Farben und Formen, in allen Größen und Modellen sind sie dort in Reih’ und Glied angekettet. Dass die Abstellplätze zwischen Fern- und Straßenbahn nicht reichen, hat auch die Stadtverwaltung gemerkt und auf einen Kniff gesetzt. An beiden Ausgängen des Bahnhofs hat sie Tiefgaragen für Fahrräder eingerichtet. Eine davon öffnete erst vor wenigen Monaten in einer umgebauten Autogarage. An der Einfahrt sind nun Wegweiser in Fahrradform aufgemalt, „Karlsruher Fahrradstation" steht am Eingang über dem Hinweis, wie das System funktioniert. Mithilfe einer Induktionsschleife erkennt das Tor, dass ein Fahrradfahrer davorsteht und öffnet sich mit einem Piepton. In der Garage wirkt es hell und freundlich. Die Fahrradstellplätze sind mit bunten Farben markiert, ein junger Mann sitzt vor seinem Rad und schraubt daran. Werkzeuge und Hilfsmittel gibt es in der Garage kostenlos dazu. „Dieses System ist wirklich sehr nützlich für mich", sagt der Schrauber. Er pendelt mit der Bahn von Freiburg nach Karlsruhe, wo sein Fahrrad einen festen Stellplatz hat. 75 Euro kostet das im Monat, dafür spart er sich aber ein Ticket ins benachbarte Ettlingen. Diesen Weg legt er mit dem Rad zurück. „Für Radfahrer sorgen sie in Karlsruhe wirklich sehr gut", lobt er. „Was mich besonders freut, ist die Tatsache, dass man hier auch in den Straßenbahnen sein Rad mitnehmen kann."
Die für Fahrradfahrer umgebaute Tiefgarage ist Punkt 13 des 20-Punkte-Plans der Stadt. „Fahrradgaragen gibt es zwar auch woanders", sagt Sprecherin Helga Riedel, „aber das Einzigartige ist, dass wir hier eine frühere Tiefgarage umgewidmet haben. Da haben wir die Gunst der Stunde genutzt, als sie frei wurde." Gemeinsam mit der ersten Fahrradgarage, die es schon seit fünf Jahren gibt, hat Karlsruhe für Pendler im Öffentlichen Nahverkehr nun 1000 überdachte Fahrradabstellplätze. Zum Vergleich: In der Innenstadt gibt es rund 6000 bewirtschaftete Autoparkplätze. „Das Fahrrad ist in dieser Stadt erfunden worden. Wir bemühen uns, es als zentrales Verkehrsmittel in die Zukunft zu denken. Die neue Fahrradgarage ist dabei ein wichtiger weiterer Schritt", sagte Michael Obert, Baubürgermeister und Vorstandsvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundlicher Kommunen in Baden-Württemberg kürzlich bei der Eröffnung.
Nachhaltiger Plan statt Einzelprojekte
Die Fahrradgarage ist ein wichtiger Schritt, der 20-Punkte-Plan umfasst aber noch viel mehr. Die Stadt Karlsruhe unterstützt die Polizei in ihren Bemühungen, Fahrraddiebstähle durch Maßnahmen der Prävention, der Fahrradcodierung und der gezielten Verfolgung zu verringern. 2010 stellte die Stadt zudem eine umfassende Beschilderung fertig, die das große Radverkehrsnetz ausweist. 19 Hauptrouten und sieben beschilderte Nebenrouten sind seit 2005 entstanden. „Da gibt es klare Regeln, die der Gesetzgeber vorgibt", sagt Sprecherin Helga Riedel. „Wenn der Fahrradanteil auf bestimmten Strecken höher ist, als der der Autofahrer, dann kann man Fahrradstraßen einrichten." Einige vierspurige Straßen in der Stadt baute die Stadtverwaltung so um, dass nun jeweils zwei Spuren für Autos und zwei für Radfahrer festgelegt sind. Viele Fahrradstraßen sind allerdings keine reinen Fahrradstraßen. Autofahrer dürfen auf vielen Strecken noch mitrollen. „Wobei die Betonung auf dem Rollen liegt", sagt Riedel. „Der Autofahrer hat sich anzupassen." Die Fahrradfahrer dürfen auf solchen Strecken auch nebeneinander fahren, was auf regulären Straßen nicht erlaubt ist. Zwölf bis 13 reine Radfahrstraßen gibt es derzeit in Karlsruhe, sagt Helga Riedel, „wir schauen aber, dass wir noch weitere einrichten."
2011 bekam Karlsruhe erstmals die Auszeichnung „Fahrradfreundliche Stadt" mit dem Hinweis, weitere Fahrradstraßen einzurichten. Deshalb wies die Stadtverwaltung bis 2016 weitere Straßenabschnitte als Fahrradstraßen aus, in denen zuvor schon Tempo 30 galt. Dort sind die Kriterien erfüllt, dass der Radverkehr die vorherrschende Verkehrsart ist. Die Maßnahmen wirkten, 2017 bekam Karlsruhe die Auszeichnung ein zweites Mal.
Der erste große fahrradfreundliche Umbau in Karlsruhe war der der Ebertstraße, die vom Hauptbahnhof abgeht. „Wir hatten dort eine zweispurige Straße, die wir in eine überbreite Spur für Autos und eine Spur für Fahrradfahrer umgebaut haben", sagt Helga Riedel. In der Mitte fährt die Straßenbahn, an der Kreuzung, an der die neue Aufteilung beginnt, weist ein auf den Asphalt gemaltes, leuchtend blaues Fahrradfahrer-Symbol darauf hin, dass die Radler nun Vorrang haben. Auf diese Weise haben sie deutlich mehr Platz und sind sicherer. Möglich ist solch eine Einrichtung in Karlsruhe auch dank der topografischen Lage. Helga Riedel: „Wir liegen in der Ebene, und da lässt sich ein Radverkehr gut einrichten." Klar, ein paar Stadtteile gingen in höhere Lagen, aber auch da gebe es Lösungen: „Wir haben mittlerweile den ersten ausgebauten Radweg in einen Höhenstadtteil, da muss man auch richtig hochstrampeln."
Zuletzt gibt es neben Fahrradgaragen, Pendlerhilfen und Fahrradstraßen einen weiteren wichtigen Punkt, mit dem Karlsruhe für ein gutes Radfahrerklima sorgen will: Die Verkehrssicherheit für den Radverkehr sollte laut Maßnahmenplan deutlich steigen. Mit den bisherigen Ergebnissen ist die Stadtverwaltung aber noch nicht zufrieden. Zwar waren eine detaillierte und stark maßnahmenbezogene Analyse der Unfalldaten, ein Sofortmaßnahmenprogramm zur Entschärfung von Unfallhäufungspunkten und die anhaltende flächenhafte Verbesserung der Infrastruktur für den Radverkehr im Straßennetz Teile des Plans, doch „die Zahl der Unfälle hat sich bislang nicht verringert, hier wollen wir noch besser werden", sagt Helga Riedel, die aber bemerkt, „dass wir bei deutlich mehr Radverkehr nicht mehr Unfälle haben als zuvor." Relativ gesehen ist die Zahl der Unfälle also doch zurückgegangen.
Bei der Bevölkerung kam das Rad-Maßnahmenpaket gut an. Sie war schnell mit Hilfe von gezielten Kampagnen mit im Boot. Die Stadt wirbt mit Sprüchen wie „Tu’s aus Liebe" oder Aktionen wie einem Radlerfrühstück und einem Draisinenrennen. Mit all diesen Maßnahmen wollte Karlsruhe seinen Radverkehrsanteil bis zum Jahr 2015 von 16 auf 23 Prozent erhöhen, wie es in Punkt zwei des 20-Punkte-Plans heißt. Und das Ziel hat die Stadt mehr als erreicht: „In der Fortschreibung des Radförderprogramms haben wir uns 2013 bis 2020 sogar einen Radanteil von 30 Prozent als Ziel gesetzt", sagt Sprecherin Riedel. Eine Million Euro geben die Karlsruher pro Jahr für ihre Radfahrer aus, die sich dafür bedanken, indem sie die Radwege häufig nutzen. Bei Fahrten in die Innenstadt lag im Jahr 2016 das Fahrrad bei den Karlsruhern mit 34,4 Prozent noch vor dem öffentlichen Nahverkehr mit 33,2 Prozent. Das Auto nutzten nur 21,8 Prozent. Aus dem Umland kommen zwar mit nur 0,9 Prozent Fahrradnutzern noch sehr wenige Menschen in die Innenstadt, das soll sich aber ändern. Hier arbeiten die Planer schon an Lösungen wie Fahrrad-Schnelltrassen.
30-Prozent-Ziel für Radverkehr
Solche Strecken und die neuen Routen in höhergelegene Stadtteile eignen sich vor allem für E-Bikes, die in modernen Städten längst zum Verkehrsbild dazugehören und die Stadtplaner vor neue Herausforderungen stellen – oder ihnen neue Möglichkeiten schaffen. Denn die Stadt will mit den noch immer relativ neuen Pedelecs weiter für Entlastung sorgen. „Wir haben mittlerweile eine Lastenradinitiative, die drei Räder zur Verfügung stellt, die sich jeder kostenlos ausleihen kann", sagt Helga Riedel. Dadurch sollen noch weniger Autos im Innenstadtbereich unterwegs sein, die dort parkend die Gehwege blockieren. Der kostenlose Verleih läuft testweise und finanziert sich durch mehrere Spender, die das Projekt unterstützen. Auch städtebaulich muss sich eine fahrradfreundliche Stadt auf elektromotorisierte, schnellere und größere Fahrräder einstellen, glaubt Riedel: „Ich denke schon, dass, was die Breite der Radfahrstreifen angeht, wir noch weiter aktiv werden müssen." Denn die Menge der Radler ist inzwischen enorm groß. Das merkt man auch als Fußgänger am Straßenrand. E-Bikes brauchen die Möglichkeit, langsamere Fahrer zu überholen. „Das ist eine Herausforderung der nächsten Jahre, die man angehen muss." Ebenso wie den Plan, ein Radschnellwegkonzept des Landes Baden-Württemberg umzusetzen. Zwei bis drei Radschnellverbindungen aus der Stadt in die Region sind derzeit in Planung. So soll es für Pendler noch einfacher werden, direkt mit dem Rad nach Karlsruhe zu fahren.
Zurück in der Erbprinzstraße. Am Abend ist die Zahl der gemessenen Radfahrer inzwischen auf mehr als 4000 gestiegen. Sie alle haben sich ohne sie gefährdende Autofahrer durch die Stadt gestrampelt. In dem nahegelegenen Rathaus nimmt man das zufrieden zur Kenntnis. 2022 steht die nächste Bewerbung zur Auszeichnung „Fahrradfreundliche Stadt" an. Daran, dass Karlsruhe sie wieder bekommt, zweifelt keiner.