In der Altersmedizin dreht sich in puncto Erhaltung der Senioren-Fitness bislang fast alles rund um die Ernährung. Dabei wird das gravierende Problem des Muskelabbaus, der für Gebrechlichkeit, Schwäche und Balancestörungen verantwortlich ist, immer noch weitgehend unterschätzt.
Gar nicht unwahrscheinlich, dass wir in absehbarer Zeit beim Besuch im Fitnessstudio auf zahlreiche Bodybuilder der Generation 75 plus treffen und im Krankenhaus betagte Senioren beim ausgiebigen Hanteltraining beobachten werden. „Der kritische Spieler im Alter ist der Muskel", erläutert der Altersmediziner Prof. Jürgen Bauer, Präsident der in Hannover ansässigen Deutschen Gesellschaft für Geriatrie sowie Lehrstuhlinhaber für Geriatrie an der Uni Heidelberg und ärztlicher Direktor des Agaplesion Bethanien Krankenhauses Heidelberg. Im fortschreitenden Alter wird die Skelettmuskelmasse – und damit das wichtigste Eiweißdepot des Körpers – immer weiter abgebaut, sofern man nicht bewusst gegensteuert und etwas unternimmt.
Mediziner sprechen bei einem Verlust von Muskelmasse und -kraft von Sarkophenie, die aber erst seit Kurzem als Erkrankung anerkannt ist. Obwohl Spezialisten wie Jürgen Bauer schon seit einigen Jahren darauf hinweisen, dass der Muskelabbau den gesamten Körper und den Stoffwechsel in Mitleidenschaft ziehen können – und damit ein viel gravierenderes Problem für Senioren darstelle als Vitaminmangel oder Ballaststoffarmut. Aus Bauers Sicht darf sich die Altersfitness-Philosophie nicht mehr länger allein nur um die Ernährung drehen, sondern muss intensiven Sport als „zweite große Säule" in den Vordergrund rücken.
Gute Ernährung und intensiver Sport
Denn wer Gebrechlichkeit, Schwäche und Balancestörungen und daraus resultierende Schäden wie Knochenbrüchen nach Stürzen vorbeugen wolle, komme an reichlich Bewegung und Krafttraining nicht vorbei.
„Dennoch ist das Problembewusstsein für Sarkophenie, auch unter uns Ärzten, bislang eher gering", so Prof. Cornel C. Sieber, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin sowie Chefarzt der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Geriatrie am Krankenhaus Barmherzige Brüder in Regensburg und Direktor des Instituts für Biomedizin des Alterns der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Dabei ist auch laut Sieber eine ausreichend trainierte Muskulatur eine zentrale Voraussetzung für den Erhalt von Gesundheit, Selbstständigkeit und Lebensqualität bis ins hohe Alter.
Früher brauchte der Sarkophenie gar keine so große Bedeutung beigemessen werden, weil die meisten Menschen einfach gar nicht so alt wurden. Doch innerhalb der nächsten 40 Jahre werde, so Bauer, die Zahl der über 80 Jahre alten Deutschen um 200 Prozent steigen, was an die Altersheilkunde, bei der Deutschland in Europa an der Spitze mitmische, ganz neue Anforderungen stellen werde.
Etwa ab dem 30. Lebensjahr setzt bei Erwachsenen ein physiologischer Umbau von Muskulatur in Fettgewebe ein, pro Jahr sind davon zwischen 0,3 und 1,3 Prozent der Muskelmasse betroffen. „Unternimmt man nichts dagegen, gehen so rund 30 bis 50 Prozent der Muskelmasse bis zum 80. Lebensjahr verloren", erklärt Cornel C. Sieber. Weniger Muskelmasse im Alter bedeutet, dass Stoffwechsel und Energieverbrauch heruntergefahren werden. Daraus resultieren ein verringerter Appetit und eine reduzierte Nahrungsaufnahme. Mit der Folge, dass Senioren immer schwächer werden, sich deshalb noch weniger bewegen und dadurch den Muskelabbau zusätzlich forcieren. „Generell ist zu beachten, dass ältere Menschen weniger Energie brauchen, vor allem weil sie sich weniger bewegen und sich ihre Körperzusammensetzung verändert", sagt Bauer. „Das stoffwechselaktive Gewebe, insbesondere die Muskelmasse, nimmt ab. Dies sind die Hauptgründe für den geringeren Energiebedarf im Alter und nicht etwa die Zellalterung an sich." Dagegen würde eine gute Muskulatur beste Voraussetzungen für körperliche Leistungsfähigkeit auch im Alter bieten. „Sie ist auch entscheidend, um alltägliche Aktivitäten wie Aufstehen, Anziehen, Treppensteigen oder Einkäufe selbstständig zu bewältigen", erklärt Cornel C. Sieber.
Auch helfe eine trainierte Muskulatur, die Sturzgefahr zu vermindern, die Widerstandskraft zu erhöhen sowie Herz-Kreislauf-System, Stoffwechsel und Gehirnfunktion bestmöglich aufrechtzuerhalten. Zudem sei ein gutes Muskelkorsett ungemein hilfreich, um nach Operationen oder Verletzungen schnell wieder auf die Beine zu kommen. „Wenn der Patient aktiv mitarbeiten kann, gelingen Frühmobilisation und Rehabilitation besser."
„Ältere Menschen brauchen weniger Energie"
Die gute Nachricht: Muskelabbau lässt sich durch Sport und gezielte, eiweißreiche Ernährung stoppen. „Muskelaufbau ist bis ins höchste Alter möglich", betont Sieber. „Auch 100-Jährige können sich fitmachen, wobei auf jeden Fall Krafttraining enthalten sein sollte", erklärt Bauer. Spazierengehen reicht bei Weitem nicht aus, da seien schon anspruchsvollere Aktivitäten wie Laufen oder Radfahren vonnöten. Dennoch sollte jede Gelegenheit genutzt werden, um körperlich aktiv zu sein. „Gerade ältere Menschen, die ohnehin viel sitzen, sollten längere Sitzperioden regelmäßig durch Aufstehen und ein paar Schritte Gehen für wenige Minuten unterbrechen", rät Sieber.
Noch viel besser wäre nach Meinung sämtlicher Altersexperten eine gezielte körperliche Beanspruchung von rund 150 Minuten pro Woche zum Kraftaufbau, aufgeteilt in fünf Einheiten an verschiedenen Tagen. Gezieltes Krafttraining kann zudem Erkrankungen wie Osteoporose, Arteriosklerose, Fettleibigkeit und Bluthochdruck vorbeugen.
Wer im Alter mit Muskeltraining beginnt, sollte sich vorher unbedingt ärztlich untersuchen lassen. Dabei wird geklärt, ob es etwaige körperliche Einschränkungen gibt und in welchem Zustand sich die Muskeln befinden. Wenn der Besuch des Fitnessstudios für manche Senioren eine zu hohe Hürde darstellen sollte, gibt es eine ganze Reihe von Übungen, mit denen auch in den eigenen vier Wänden die Muskeln ohne großen Aufwand trainiert werden können. Beim Netzwerk Alternsforschung Heidelberg (NAR) können entsprechende Übungsanleitungen angefordert werden (www.nar.uni-heidelberg.de). Neben dem regelmäßigen Training kann auch Ernährung die Sarkophenie ganz entscheidend bremsen. Speziell eiweißreiche Lebensmittel können den Muskelaufbau unterstützen. Laut Experten benötigen ältere Menschen rund 25 Prozent mehr Eiweiß als Jüngere, um Knochenstruktur und Muskulatur zu erhalten. „Im Alter kann der Körper Eiweiß schlechter verwerten", erklärt Sieber. „Gleichzeitig benötigt er mehr davon. Deshalb sollten ältere Menschen gezielt mehr davon zu sich nehmen." Sieber empfiehlt eine tägliche Proteinzufuhr von 1,0 bis 1,2 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht (für jüngere Erwachsene liegt die entsprechende Menge bei 0,8 Gramm).
Das ist nicht ganz leicht zu schaffen, Bauer rät zu Milchprodukten (allen voran Molke oder Buttermilch), weil diese einen hohen Anteil hochwertigen Eiweißes enthalten. Besonders das Protein Leucin, das auch in Rind- und Geflügelfleisch, Lachs, Walnüssen oder Erbsen in hoher Dosierung enthalten ist, ist dem Muskelaufbau förderlich. Als optimal gilt, die Eiweißzufuhr auf drei Hauptmahlzeiten zu verteilen, da der Körper maximal 30 Gramm Protein pro Mahlzeit effizient zur Muskelproteinsynthese verwerten kann. Häufig wird eine ärztlich verordnete Protein-Nahrungsergänzung nötig sein, um die erforderlichen Eiweißmengen konsumieren zu können.
Neben dem Verzehr von Proteinen hat sich die Zufuhr von Vitamin D bei Senioren zum Muskelerhalt und zur Stärkung der Knochensubstanz als wirkungsvoll erwiesen. Da bei älteren Menschen die Biosynthese des Vitamins in der Haut verzögert ist, rät Sieber zur Einnahme von täglich mindestens 800 Internationalen Einheiten (IE) des Vitamins pro Tag. Daneben sollte generell im Alter auf eine besonders hochwertige Ernährung Wert gelegt werden, weil im Unterschied zum Energiebedarf der Nährstoffbedarf im Alter stabil bleibt, gleichzeitig aber die Verzehrmenge bei vielen Senioren meist abnimmt – Letzteres häufig verursacht durch schlecht sitzende Prothesen oder Schluckbeschwerden.
Bei älteren Veganern könnte eine ausreichende Nährstoffaufnahme auch durch ein frühzeitiges Sättigungsgefühl behindert werden, das sich wegen der vielen Ballaststoffe schnell einzustellen pflegt.