Bertram Weisshaar ist einer von zwei Spaziergangs-Wissenschaftlern in Deutschland. Im Interview erklärt er, warum spazieren nicht gleich spazieren ist, was Städteplaner künftig beachten sollten und wieso sich das Gehen vor der eigenen Haustür lohnt.
Herr Weisshaar, Sie sind Spaziergangsforscher. Was genau kann ich mir darunter vorstellen, was machen Sie?
Ich habe Landschaftsplanung studiert und in diesem Studium gab es ein Seminar zur Spaziergangswissenschaft. Das ist eigentlich eher Kunstbegriff als Berufsbezeichnung. Es geht dabei immer um die Frage, wie wir unsere Welt wahrnehmen und Zugang zu ihr finden. Auch darum, im Alltag den eigenen Blick noch mal zu schärfen. Dadurch dass man denkt, man kenne alles in seiner Umgebung, schaut man gar nicht mehr richtig hin und verpasst vielleicht Veränderungen.
Sie wollen Menschen dazu ermutigen, sich bewusster durch die Landschaften zu bewegen. Im Grunde setzen Sie also voll auf die Trends der Entschleunigung und der Achtsamkeit, oder?
Man kommt schnell dahin. Lucius Burkhardt, der die Spaziergangswissenschaft erfunden hat, hat von Achtsamkeit nie gesprochen. Aber es gibt sicher eine Nähe dazu, genauso wie zur Resonanztheorie von Hartmut Rosa. Grundsätzlich kann man sagen, die Art und Weise, wie wir unterwegs sind, bestimmt, wie wir die Welt erleben.
Wie reagieren andere Menschen, wenn Sie erzählen, was Sie beruflich machen?
Jeder weiß, was Spazieren ist, aber Spaziergangswissenschaft ist für viele neu. Deshalb entwickeln die meisten Menschen eigene Vorstellungen davon. Das finde ich super. Man kommt nicht in eine Schublade, die alle kennen, wie beim Bäcker, Journalisten oder Filmemacher. Manche allerdings brauchen eine Welt mit festen Schubladen, die fühlen sich dann irritiert.
Spazierengehen, so sagen Sie, ist nicht gleich Spazierengehen. Was kann man bei Ihren organisierten Spaziergängen lernen?
Es gibt verschiedene Dinge, die wichtig sind. Zunächst geht es darum, der Welt direkt zu begegnen und das, was man sieht, hört und fühlt mit dem abzugleichen, was einem andere erzählen. Außerdem kann man lernen, dass es nie nur eine Wahrheit gibt, sondern dass verschiedene Wahrheiten möglich sind. Es geht nicht darum, Historikermeinungen zu rezitieren oder für falsch zu halten, sondern sich zu fragen, wie solche Erzählungen eigentlich entstanden sind. Letztlich begegnet man natürlich auch immer einem Wandel der Zeiten und sieht, wie sich etwa Landschaften und Dörfer über die Zeit hinweg verändert haben.
Wenn ich spazieren gehen will, gehe ich einfach in den nächsten Wald. Wenn ich mit Ihnen spazieren gehen würde, würde ich aber ganz andere Landschaften sehen, oder?
Ein Beispiel ist das Projekt „7 Räume 7 Träume" im Saarkohlenwald, bei dem das große Waldgebiet noch mal neu erschlossen werden sollte. Wir haben damals eine Erzählung entwickelt, in der der Saarkohlenwald eine gemeinsame Mitte sein sollte. Es gab dann Veranstaltungen, Workshops, geführte Spaziergänge und ein großes Beteiligungsprogramm für Bürger. Am Fuße der Halde haben wir die saarländische Schweiz mit Ziegen, Senn-Hirten, Schweizer Flagge und Fondue am offenen Feuer inszeniert. Über solche Projekte kann man neue Erzählungen in Landschaften einfügen und ist nachher in einer reicheren Welt.
Dadurch wird der klassische Wald neu erlebt. An welchen Orten sind Sie noch unterwegs?
Mein bislang größtes Projekt ist der Denkweg, ein umweltlicher Pilgerweg von Aachen nach Zittau. Die Idee ist, einen Querschnitt durch das eigene Land zu gehen und es so neu zu erleben. Dieser Fernwanderweg beschäftigt sich damit, wie sich unsere Lebensstile in der Landschaft zeigen.
Zu Ihren Auftraggebern zählen auch Stadtplanungsämter. Was sind deren Anliegen?
Vielfach geht es um die Benutzbarkeit der Städte für Fußgänger. Ich gehe mit Entscheidungsträgern aus Verkehrsplanung und Verkehrspolitik durch die Stadt. Gerade Menschen, die sonst notgedrungen meist mit dem Auto unterwegs sind, bemerken bei solchen öffentlichen Spaziergängen, bei denen etwa auch Senioren mit Rollatoren dabei sind, gut, wie ihre Stadt aus der Fußgängerperspektive aussieht.
Das ist auch der Versuch, die Bürger mehr einzubeziehen, oder?
Ja, nach Stuttgart 21 ging ein Ruck durchs Land und in Städten und Kommunen wird jetzt anders über Bürgerbeteiligung gedacht. Sie haben verstanden, dass es nicht reicht, eine Veranstaltung mit Power-Point-Präsentation zu machen, sondern dass man mit den Bürgern vor Ort unterwegs sein muss. Die Bürger können sich dadurch besser vorstellen, was entstehen soll und Menschen finden auf der Straße zu einer anderen Sprache als bei einem Fachvortrag im geschlossenem Raum.
Der Trend geht dahin, dass sich Menschen immer neue Räume erschließen wollen und im Hinblick auf die urbane Zukunft auch müssen. Werden Sie also bald mehr gebraucht?
Auf jeden Fall. Was auch in Zukunft mehr kommen wird, sind sogenannte Audio-Walks und Audio-Guides. Im Zeitalter von Smartphones gewinnt dieses Medium für Städtespaziergänge aber auch zur Bürgerinformation an Bedeutung. Sie erhalten Informationen von lokalen Experten und erleben den Raum, um den es geht, auch selbst.
Sind Sie beim Erschließen neuer Räume innerhalb einer Stadt in der Lage andere Dinge zu sehen oder als nutzbar zu erkennen als der Durchschnittsbürger?
Ja, natürlich. Es ist, wie Goethe sagte: „Man sieht, was man weiß". Es ist gut, wenn man Hinweise bekommt, aber man sollte die Menschen nicht bevormunden. Aber wenn Sie so stark nach Städten fragen, muss man sagen, dass mindestens die Hälfte der deutschen Bundesbürger in kleinen Städten und in dörflichen Regionen leben und um die muss man sich eher mehr kümmern als um die Probleme in den Städten.
Wieso glauben Sie das? Laut den Vereinten Nationen wird bis 2050 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben.
Wenn Sie das Bundesland Thüringen nehmen, leben dort circa 70 Prozent der Einwohner im ländlichen Raum. Die kann man nicht damit vertrösten, dass sich Politiker, Journalisten, Ökonomen und Planer damit auseinandersetzen, dass mehr Menschen in die Städte ziehen. Die leben dort, die wollen dort bleiben, haben ihr Eigentum und können vielleicht auch nicht einfach so weg. Diese Menschen haben das Gefühl, dass bei ihnen immer mehr an Infrastruktur dicht gemacht macht und sie nicht ausreichend gesehen werden. Das macht etwas mit Menschen, das ist sehr ungesund. Wenn dann noch Politik und Medien euphemistisch davon sprechen, dass immer mehr Menschen in Städte ziehen, wird das der Sache nicht gerecht.
Haben Sie den Eindruck, dass darüber euphemistisch gesprochen wird? Ich nehme schon eine differenzierte Auseinandersetzung mit Vor- und Nachteilen von Städten wahr und auch damit, wie Städte sich wandeln müssen, damit Menschen dort gut leben können.
Ja, das ist schon richtig. Aber die Städter beschäftigen sich mit den Problemen, die sie als Städter haben. Sie nehmen nicht wahr, was um sie herum geschieht.
Und was glauben Sie, müsste konkret passieren?
Das kann ich nicht in einem Satz zusammenfassen. Aber der erste Schritt ist, dass man die Menschen in ländlichen Räumen wieder in die Überlegungen mit einbindet und dass man auch in diese Regionen wieder hingeht und sie erfährt – nicht nur als Erholungssuchender, sondern auch mit einem Interesse für Problemlagen.
Wenn Sie sagen, die Menschen sollen sich mehr von Ihrer Umwelt anschauen, andere Dinge als die, die sie kennen, vielleicht auch Dinge, die wir nicht als klassischerweise schön bezeichnen würden – womit wollen Sie dafür Anreiz schaffen? Blenden die Menschen diese Eindrücke nicht vielleicht auch wegen der Reizüberflutung aus?
Gehen, und wenn es nur eine Stunde ist, ist ein Austreten aus Verpflichtungen und aus dem Alltagstrott. Wenn Sie dann auch noch das Handy zu Hause lassen, sind Sie unerreichbar und nur mit sich unterwegs. Das ist eine wertvolle Möglichkeit, niedrigschwellig auszubrechen und sich für Neues zu öffnen. Je länger man geht, desto empfänglicher wird man wieder für Resonanz-Erlebnisse.
Sie selbst arbeiten an einem neuen Buch über das Spazierengehen. Was sind persönliche Ziele, die Sie noch haben?
Ich habe gerade die Arbeit an meinem Buch „Einfach losgehen" abgeschlossen. Darin geht es darum, dass es ein Gewinn sein kann, einfach vor der eigenen Haustür loszugehen und zu schauen, was einem begegnet. Ein ganz großes Thema wird in den nächsten Jahren auch die Europäische Landschaftskonvention sein, die 2000 verabschiedet wurde, aber von der Deutschen Bundesregierung bislang nicht unterzeichnet wurde. Dort heißt es, dass es künftig eine größere Bürgerbeteiligung geben sollte für die Entwicklung der Landschaft. In Deutschland kümmern wir uns bislang um Umwelt- und Naturschutz, vernachlässigen aber eher, was jenseits dieser Schutzgebiete passiert.
Was denken Sie, warum diese Konvention nicht unterzeichnet wurde?
Da kann ich nur mutmaßen. Der Deutsche Umweltrat jedenfalls hatte der Bundesregierung angesichts fehlender Nachteile und ersichtlicher Vorteile eindeutig empfohlen, diese Landschaftskonvention zu unterzeichnen. Vermutlich gibt es aber eine Einflussnahme seitens solcher Institutionen und Verbände, die an dieser Form der Bürgerbeteiligung kein Interesse haben. Denn diese birgt ja die „Gefahr", dass es Diskussionen und Auseinandersetzungen geben wird, die nicht von allen gewollt sind.