Am Abend des 9. März richtete ein ehemaliges, wahrscheinlich psychisch krankes Mitglied der Zeugen Jehovas in der Gemeinde Hamburg-Winterhude bei einem Amoklauf ein Blutbad mit acht Toten und neun Verletzten an.
Der Gottesdienst, zu dem sich am Abend des 9. März 2023 36 der rund 60 Mitglieder zählenden Gemeinde Hamburg-Winterhude der Zeugen Jehovas und 14 weitere Gastpersonen in dem „Königsreichssaal“ getauften Versammlungsort eingefunden hatten, war seit wenigen Minuten beendet. Doch die meisten Anwesenden der streng-religiösen christlichen Glaubensgemeinschaft wollten nach dem Ende des offiziellen Teils, der von 19 bis 20.45 Uhr dauerte, offenbar noch ein wenig in dem der Gemeinde gehörenden und an der Alstersdorfer Straße Deelböge stehenden Gebäude miteinander plaudern. Nur eine Gläubige hatte es offenbar eilig und verließ den im Erdgeschoss liegenden Versammlungsraum schon kurz vor 21 Uhr. Auf dem Weg zu ihrem auf dem Parkplatz stehenden Auto wurde die Frau urplötzlich mit Schüssen attackiert. Zehn Schüsse hinterließen Einschläge in der Karosserie ihres Pkw. Trotz ihrer Panik gelang der leicht verletzten Frau die Flucht, sie konnte sogleich die Polizei, deren Hamburger Präsidium gerade mal fünf Autominuten vom Tatort entfernt liegt, per Notruf informieren.
Plötzlich hagelte es Schüsse
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Lage schon dramatisch zugespitzt, denn der Angreifer hatte durch ein Fenster weitere Salven von Schüssen auf die überraschten Gläubigen abgegeben und sich danach laut polizeilichem Einsatzbericht gewaltsam „unter permanentem Schusswaffengebrauch“ Zugang zu dem Gebäude verschafft. Insgesamt leerte er bei seinem Amoklauf mit seiner Faustfeuerwaffe, einer halbautomatischen Pistole, neun Magazine mit insgesamt 135 Patronen. Womit er erheblichen Schaden an Leib und Leben anrichtete. Sieben Menschen wurden tödlich getroffen, zwei Frauen und vier Männer im Alter zwischen 33 und 60 Jahren sowie ein ungeborenes Kind im Mutterleib. Neun Menschen wurden verletzt, davon vier lebensgefährlich, allerdings stabilisierte sich ihrGesundheitszustand nach einigen Tagen. Der Täter selbst setzte seinem Leben durch einen Bauchschusses ein Ende.
Das vom Täter angerichtete Blutbad wäre sicherlich noch viel verheerender gewesen, wie zwei an seinem Körper getragene und 20 weitere in einem Rucksack mitgeführte Magazine samt jeweils 15 Patronen vermuten ließen, wenn nicht die durch insgesamt 47 Notrufe ab 21.04 Uhr alarmierten Polizeikräfte so schnell am Tatort eingetroffen wären. Erste Einsatzkräfte fanden sich bereits um 21.08 Uhr am Tatort ein. Eine Minute später war, dank eines glücklichen Zufalls, ein ganz in der Nähe patrouillierendes Spezialeinsatzkommando zur Stelle. Dabei handelte es sich um ein von der Hamburger Polizei für die Bekämpfung von Amok- und Terrorattacken zusammengestelltes und als „Unterstützungsstreife für erschwerte Einsatzlagen“ benanntes Team von Bereitschaftspolizisten, die ständig in Einsatzwagen im gesamten Stadtgebiet unterwegs sind, um bei akuten größeren Gefahren die Lücke zwischen dem normalen Streifendienst und den hochspezialisierten, aber nicht so schnell mobilisierbaren Spezialkommandos (SED) füllen zu können. Die Männer der Unterstützungsstreife zögerten keine Sekunde und verschafften sich durch einen Schuss in die Scheibe neben der verschlossenen Eingangstür Zugang ins Hausinnere. Dabei registrierten sie nicht nur die am Boden liegenden Toten und Verletzten, sondern auch den ins Obergeschoss flüchtenden und wenig später dort von ihnen tot aufgefundenen Täter.
Da aufgrund diverser Zeugenaussagen der Verdacht auf mindestens einen weiteren Mittäter bestand, löste die Polizei schon um 21.11 Uhr einen Großalarm aus, an dem schließlich 953 Einsatzkräfte beteiligt waren. Die Anwohner wurden um 22.30 Uhr auf digitalem Wege vor einer „lebensbedrohlichen Lage“ gewarnt. Erst Stunden später sollte die Polizei Gewissheit darüber erlangen, dass ein 35-jähriger Deutscher namens Philipp F. ganz allein für das blutige Attentat verantwortlich gewesen war. Die Altonaer Wohnung Der Amokläufer war, wie sich bald herausstellen sollte, ab 2020 etwa eineinhalb Jahre selbst Mitglied der von ihm attackierten Hamburger Gemeinde der Zeugen Jehovas gewesen. Sein Ausscheiden war alles andere als gütlich verlaufen. Die Altonaer Wohnung des Amokläufers wurde ab 0.30 Uhr von Beamten durchsucht, die dabei eine Riesenmenge an Munition, aber keinerlei Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund finden konnten.
Fremde Stimmen im Kopf
Die biografischen Hintergründe des Amoktäters Philipp F. konnten schnell geklärt werden. Er stammte aus dem bayerischen Memmingen und wuchs in der Stadt Kempten im Allgäu in einer zu den Zeugen Jehovas gehörenden Familie auf. Nach einer Banklehre und einem abgebrochenen Betriebswirtschaftsstudium in Kempten zog er im Jahr 2014 nach Hamburg. Dort versuchte er sich nach Angaben in seinem Lebenslauf als Controller, Berater und Projektmanager. Wegen psychischer Probleme begab er sich zeitweise in stationäre Behandlung. Sein Vater hatte im Jahr 2021 einen sozialpsychiatrischen Dienst der Hansestadt darauf aufmerksam gemacht, dass sein Sohn ihm mitgeteilt habe, dass er sich umbringen wolle und dass er fremde Stimmen in seinem Kopf wahrgenommen habe. 2022 bot Philipp F. auf einer eigenen Webseite samt fiktiver Adresse an der noblen Binnenalster für ein horrendes Tagessalär von 250.000 Euro seine Dienste als selbstständiger Managementberater an. Ende 2022 hatte er im Selbstverlag ein selbst verfasstes Buch mit dem Titel „The Truth About God, Jesus Christ and Satan“ herausgegeben, das über seine Webseite und über Amazon geordert werden konnte. Dabei handelte es sich um ein ziemlich wirres Konstrukt aus religiös-bibelfundamentalistischen und betriebswirtschaftlichen Aussagen, aus denen sich allerdings keine echten Warnhinweise auf seine spätere Bluttat hätten ableiten lassen.
Wesentlich gravierender war diesbezüglich schon die ihm als Sportschützen und Mitglied (seit 2021) des kommerziellen „Hanseatic Gun Club“ im Dezember 2022 ausgestellte Waffenbesitzkarte, die ihm den legalen Besitz der auch bei dem Amoklauf benutzten halbautomatischen Pistole erlaubte. Was angesichts seiner labilen Psyche, wovon die Ausstellungsbehörde offensichtlich keine Kenntnis hatte, natürlich mehr als problematisch war.
Im Laufe der monatelangen Nachuntersuchungen, die auch zu parteipolitisch instrumentalisierten Diskussionen inklusive Rücktrittsforderungen Richtung Polizeipräsident und Innensenator oder einer nötigen Verschärfung des Waffengesetzes führten, wurden zudem zwei an Hamburger Behörden adressierte Warnhinweise ans Licht der Öffentlichkeit befördert. Beim ersten Hinweis von Ende Januar 2023 handelte es sich um ein anonymes Schreiben, in dem neben dem Hinweis auf das Buch vor allem eine Information über die große Wut enthalten war, die Philipp F. auf alle religiösen Anhänger, vor allem aber auf die Mitglieder der Zeugen Jehovas gehegt haben soll. Bei dem daraufhin von der Waffenbehörde der Hamburger Polizei am 7. Februar 2023 unangemeldeten Kontrollbesuch konnten beim Sozialverhalten des Phillipp F. allerdings keinerlei Auffälligkeiten festgestellt werden. Dem zweiten Hinweis, den der Bruder des Amokläufers im Januar 2023 telefonisch dem Waffenclub übermittelte und den dieser sofort an einen Beamten der Waffenbehörde weiterleitete, ging man jedoch nicht nach. Denn der Beamte schenkte der Info, wonach Philipp F. psychisch krank sei und immer aggressiver werde, nicht die nötige Aufmerksamkeit. Der Hinweis wurde weder dokumentiert noch weiterverfolgt.