Jaron Siewert ist wieder zurück auf der Trainerbank der Füchse Berlin. Nach seinem leichten Schlaganfall will der Chefcoach keine Sonderbehandlung, sondern nur zurück zur Normalität. Und dazu gehört auch, sich über kleine Fehler zu ärgern.
Schlaganfall. Im Alter von 28 Jahren. „Wir waren erst mal absolut geschockt", berichtete Handball-Nationalspieler Paul Drux über den Moment, als er von der Erkrankung seines Trainers erfuhr. Jaron Siewert wird jenen 11. August erst recht nicht vergessen. Es begann als ganz normaler Trainingstag in der Saisonvorbereitung, an dem der junge Coach mit seinem Assistenten Max Rinderle im Trainerbüro saß und über Handball fachsimpelte, als er sich plötzlich unwohl fühlte. Koordinationsprobleme, Kopfschmerzen, Schwindel, Taubheitsgefühl, Sehstörung, Sprachverlust – „es kam ganz schlagartig", sagte Siewert der „Bild", „wie das Wort Schlaganfall leider schon sagt". Sein Glück war, dass die Kollegen schnell reagierten und sofort den Krankenwagen riefen. Er selbst konnte sich nicht mehr helfen: „Es war beschissen. Wenn es passiert, ist man in seinem eigenen Körper gefangen."
Mannschaft reagierte geschockt
Durch den schnellen Transport ins Vivantes Klinikum in Berlin-Friedrichshain konnten ihm kompetente Ärzte schnell per Gefäßkatheter-Eingriff ein Blutgerinnsel, das bis ins Gehirn gewandert war und den leichten Schlaganfall ausgelöst hatte, entfernt werden. Siewert erinnert sich noch gut an das „bittere Bangen bis zur OP. Danach ist es dann entweder gut oder schlecht. Bei mir ist es zum Glück gut gegangen". So gut, dass er nur vier Wochen später sein Comeback auf der Trainerbank gab. Beim 31:21-Sieg gegen den TVB Stuttgart wurde der Trainer, der eher ungern im Mittelpunkt steht, auf emotionale Art gefeiert. „Das war ein besonderes Spiel, vor allem diese Atmosphäre zu spüren", sagte er. Die Arbeit bei den Füchsen habe ihm beim Genesungsprozess geholfen: „Ich habe hier meinen Traumjob in einem Traumverein. Das war also mein oberstes Ziel."
Eigentlich wollte Siewert sogar viel früher zurückkehren. „Ich musste ihn oft bremsen, bis alle Ergebnisse der Untersuchungen vorgelegen haben", berichtete Teamarzt Dr. Jürgen Bentzin. Das fiel dem ehrgeizigen Berliner schwer. „Das Trügerische bei mir war, ich habe mich sehr schnell wieder fit gefühlt", verriet Siewert. Die Ärzte konnten ihn aber nicht davon abhalten, nach etwa anderthalb Wochen der Mannschaft einen Trainingsbesuch abzustatten. Er sei „nicht lebensmüde", versicherte Siewert, „aber ich wollte meinen Jungs das Gefühl geben, dass alles gut ist und sie sich aufs Training konzentrieren können, statt sich um mich Sorgen zu machen".
Seine Vertretung hatte während seines Ausfalls wieder Bob Hanning übernommen. Der Geschäftsführer war schon in der Vergangenheit eingesprungen, als Siewert wegen einer Corona-Erkrankung ausgefallen war. Unter Hanning fuhren die Berliner gegen Frisch Auf Göppingen (34:27) und HSG Wetzlar (37:25) zwei deutliche Startsiege ein. „Er hat natürlich auch schon Scherze darüber gemacht, dass ich jetzt erst mal nachziehen muss", erzählte Siewert lächelnd: „Ich bin aber froh, dass er mich so erfolgreich vertreten hat." Mit dem klaren Sieg gegen Stuttgart gelang auch sein persönlicher Saisonstart, und im anschließenden Topspiel coachte Siewert die Füchse zu einem achtbaren 31:31 bei der SG Flensburg-Handewitt. „Beide Mannschaften haben alles auf der Platte gelassen, es war bis zum Ende ein enges Ding", sagte Siewert, der mit dem ersten Punktverlust der Saison ein klein wenig haderte: „Mit dem Unentschieden nach 60 Minuten können beide Mannschaften irgendwie leben, obwohl ich leichte Vorteile bei uns gesehen habe." Ihn ärgerten die „fünf, sechs Minuten, in denen wir nicht so auf dem Punkt waren, Bälle haben liegen lassen, technische Fehler gemacht haben, Flensburg zurück ins Spiel haben kommen lassen".
Es ist ein gutes Zeichen, wenn sich Siewert über diese vergleichsweise banalen Dinge wieder aufregen kann. Im Spiel denkt der jüngste Trainer der Bundesliga überhaupt nicht mehr an das, was ihn vor wenigen Wochen gesundheitlich aus der Bahn geworfen hat. „Bei mir ist es kein Thema mehr und bei den Spielern auch nicht", versicherte er. Keiner habe ihm das Gefühl gegeben, „dass ich jetzt besonders beobachtet werde". Dagegen würde er sich auch wehren, denn: „Ich brauche keinen, der mich mit Samthandschuhen anfasst." Er wisse natürlich, dass es schwer sei, „nach so einem Schock zur Normalität überzugehen" – doch genau das helfe ihm am allermeisten. Nach dem Sieg gegen Stuttgart habe es sich für ihn „schon wieder so angefühlt wie früher".
„Scheint ein Kuriosum meiner Person zu sein"
Siewert lebt sein Leben auch fast wieder wie vorher – außer, dass er nun Blutverdünner nehmen und die Wirksamkeit in regelmäßigen Abständen kontrollieren lassen muss. „Ich habe die Ärzte auch gefragt, ob ich in meinem Leben etwas ändern muss, aber es gibt nichts", verriet der Coach. Er rauche nicht, trinke nicht, treibe gelegentlich Sport und ernähre sich gesund. Und was ist mit dem hohen Stresslevel in seinem Trainerberuf? Ein Schlaganfall habe „nichts mit Stressfaktoren zu tun", berichtete Siewert aus Gesprächen mit den Ärzten, „sondern viel häufiger mit physiologischen Gegebenheiten". Warum es aber ausgerechnet ihn in so jungen Jahren traf, bleibt ein Rätsel. „Ich wurde von den besten Ärzten auf den Kopf gestellt", sagte Siewert, „es wurde aber nichts gefunden". Die Erkrankung sei auch nicht erblich bedingt, „es scheint ein Kuriosum meiner Person zu sein".
Unendlich dankbar ist er dem Club, allen voran Hanning und Sportvorstand Stefan Kretzschmar. Die beiden in der Hauptstadt exzellent vernetzten Funktionäre versorgten Siewert mit der bestmöglichen medizinischen Betreuung. „Das waren nicht irgendwelche Ärzte, sondern das waren wirklich die Topleute aus Deutschland", sagte Siewert. Für Hanning war diese Hilfe eine Selbstverständlichkeit, genauso wie sein Einspringen als Cheftrainer in der Zeit von Siewerts Abwesenheit. „Ich kenne Jaron seit seiner Jugend, und der Begriff Füchse-Familie trifft hier mehr denn je zu", sagte der Geschäftsführer. „Seine Gesundheit war hier das Wichtigste."
Der Club entschied sich, den genauen Grund für Siewerts Fehlen in der Öffentlichkeit zunächst nicht bekannt zu geben. Für die Krankschreibung des Trainers wurde anfangs kein offizieller Grund genannt, was natürlich zu Spekulationen führte. Es war auch für den Verein keine leichte Zeit. Umso größer ist die Erleichterung, dass der Jungstar im Handball-Trainergeschäft, der oft mit Fußballcoach Julian Nagelsmann verglichen wird, in seiner Karriere nicht durch einen Schicksalsschlag frühzeitig gestoppt wird. „Ich bin überglücklich und froh", sagte Hanning, „dass Jaron seinen erfolgreichen Job bei den Füchsen fortsetzen kann und wir gemeinsam wieder Erfolge feiern werden." Nach seiner Rückkehr auf die Trainerbank fand der Perfektionist auch schnell einige Verbesserungsansätze, „zu meckern hat man immer ein bisschen was". In seinem Arbeitseifer will sich Siewert nicht bremsen lassen. Trotzdem hat ihm der Vorfall auch klar vor Augen geführt, dass der Leistungssport nicht alles im Leben ist. „Nach so einem Schicksalsschlag bekommt man aufgezeigt, dass man auch nur ein Erdenbürger ist, der auch eine Verantwortung hat", sagte Siewert. Er wolle die Momente mit der Familie „jetzt noch mehr genießen".