Vittel geht das Grundwasser aus. Was auf den ersten Blick wie ein Scherz klingen mag, wird für die französische Kleinstadt zum Versorgungsproblem. Der Schweizer Lebensmittelkonzern Nestlé, dem der Mineralwasserproduzent Vittel gehört, will sein Wasser selbst verkaufen und deshalb für die Einwohner eine Pipeline bauen.
Wasser ist kein Konsumgut. Gegen eine Privatisierung des Grundwassers", steht auf einem der Protestschilder. „Abgeordnete: verkauft an Nestlé?", fragt ein anderes. 200 Bürger aus der Umgebung von Vittel sind an einem Dienstagvormittag vor die Departemental-Verwaltung im ostfranzösischen Épinal, zwischen Nancy und Mulhouse, gezogen. Dort soll die Wasserkommission eine wichtige Entscheidung treffen. Da das Grundwasser vom Austrocknen bedroht ist, muss eine Lösung her. Konkret wird aktuell diskutiert, ob die Bevölkerung von Vittel künftig ihr Trinkwasser zu Teilen über kilometerlange Rohre aus Nachbargemeinden erhalten soll und Nestlé gleichzeitig seine bekannte Marke „Vittel Bonne Source" weiter aus ebenjenem Reservoir unter dem Städtchen abpumpen darf.
Gegen Mittag steht das Votum fest. Mit vier Gegenstimmen der vertretenen Umweltschützer und zwei Enthaltungen hat die Wasserkommission für den Bau einer teuren Wasserpipeline gestimmt. Die Entscheidung ihrer „demokratisch gewählten" Kommission trage dazu bei, das Defizit des Grundwasserpegels bis 2021 auszugleichen, begründet Regine Grandjean-Begel, Leiterin der Wasserkommission, die Entscheidung vor Journalisten. Indem zusätzliche Wasserquellen für die lokale Bevölkerung angezapft würden, könnten die Interessen aller Nutzer befriedigt werden. Weil sich die Industrie an den Kosten der Ersatz-Lösung über Wasserleitungen aus Nachbargemeinden beteilige, steige die Wasserrechnung für den gewöhnlichen Trinkwasserkunden in Vittel nicht, betont die Politikerin.
Die Entscheidung sichere seinem Unternehmen „noch sehr, sehr lange" in und um Vittel die Existenz, freut sich anschließend Nestlé-Manager Olivier Klotz. Mehrere hundert Arbeitsplätze hingen schließlich alleine an der Marke „Bonne Source", sagt der Leiter des Wasserschutzprogramms Agrivair vor Journalisten. Die millionenschweren Kosten für die Pipeline trage Nestlé gemeinsam mit anderen Unternehmen – und dem Steuerzahler. Klotz’ Fazit: „Das ist eine ausgezeichnete Neuigkeit für alle, eine ausgezeichnete Neuigkeit für die nachhaltige Wirtschaft."
Grundwasserspiegel in Vittel sinkt
Man könnte auch sagen: Die Wasserversorgung der 5000-Einwohnerstadt Vittel soll künftig finanziell von Nestlé abhängig gemacht werden. Damit der Schweizer Großkonzern weiter pumpen kann, erhalten die Bürger von Vittel bald weniger edles Trinkwasser aus dem Hahn. Diese zumindest fragwürdige Entscheidung ist der vorläufige Höhepunkt einer unglaublichen Geschichte. Sie handelt von einer jahrzehntelang gewachsenen Beziehung zwischen Politik und Wirtschaft. Sie hat aber auch mit der Frage zu tun, wie man Gemeinwohl eigentlich definiert und wo genau die Grenze verläuft zwischen dem, was sich politisch vertreten lässt und dem, was darüber hinausgeht. Umweltschützer kritisieren die Entscheidungen im lothringischen Vittel jedenfalls schon seit Jahren heftig. „Diese Strategie begünstigt einseitig die Interessen der Industrie, darunter die von Nestlé, und das zulasten der Allgemeinheit", schimpft etwa der Umweltverband Vosges Nature Environnement (VNE). Exklusive Informationen dieses Autors stützen den Verdacht. Zuerst hatte die Schweizer Monatszeitung „La Cité" die mehrmonatigen Recherchen veröffentlicht, wenig später unter anderem auch die ZDF-Sendung „Frontal 21" und „Die Zeit". Zahlreiche andere europäische Medien griffen das Thema danach auf.
Die Zusammenhänge sind komplex. Seit den 70er-Jahren sinkt der Grundwasserspiegel in den Westvogesen, wie Dokumente des Umweltministeriums aus der damaligen Zeit belegen. Das zuständige Bergbauamt nennt dafür zwei Gründe: Erstens sickere der Regen hier nur sehr langsam durch die Gesteinsschichten. Und zweitens gebe es „eine starke Konzentration von Entnahmen", insbesondere durch Unternehmen wie Nestlé und die örtliche Großkäserei L’Ermitage. Die seien gemeinsam mit knapp der Hälfte des Konsums die größten Wasserverbraucher vor Ort. Der Umweltverband VNE schätzt, dass allein Nestlé für mehr als 80 Prozent des Defizits seit 1992 verantwortlich sein soll. Berechnungen zufolge werden in und um Vittel jedes Jahr zwischen einer halben und einer Million Kubikmeter Wasser zu viel abgepumpt. Das entspricht tatsächlich grob den aktuellen Wasserentnahmen von Nestlé.
Wichtigster Akteur der Wasserpolitik in der Gegend um Vittel ist die Wasserkommission CLE. Sie besteht aus 45 Mitgliedern und vertritt 180 Kommunen, Verbraucherverbände, Wasserschutzbehörden und den Staat. Zu ihren vorrangigen Zielen gehört der Schutz des Grundwassers. Doch die Unabhängigkeit der Kommission wird durch einige Sitzungsprotokolle zumindest infrage gestellt. Zentrale Figur ist hier die konservative Politikerin Claudie Pruvost. Sie ist Beigeordnete der Stadt Vittel, Vertreterin im Departemental-Rat und leitete bis Ende 2016 die Wasserkommission. Unter Claudie Pruvost, deren Mann Bernard bis vor Kurzem Manager bei Nestlé war, wurde schon im Frühjahr 2016 eine Richtungsentscheidung getroffen, die bereits eine Pipeline-Lösung vorsah und Nestlé das Weiterpumpen ermöglichen sollte. Nach Einschätzung des Verbands VNE und der Nichtregierungsorganisation Anticor ging das weit über das hinaus, was im Rahmen einer normalen Ermessensentscheidung zulässig gewesen wäre. Sie wandten sich an die zuständige Staatsanwaltschaft in Épinal. Diese hat daraufhin Vorermittlungen wegen des Verdachts auf eine „prise illégale d’intérêt" eingeleitet, einseitige Interessenvertretung, auf die in Frankreich hohe Geldstrafen und bis zu fünf Jahre Gefängnis drohen.
Ermittlungen eingeleitet
Zu den Ermittlungen möchte sich die Staatsanwaltschaft auf Anfrage von FORUM nicht äußern. Der Lokalzeitung „Vosges Matin" bestätigte sie Anfang Juli, dass sie die baldige Einleitung eines Verfahrens durchaus für möglich halte. Die Antikorruptions-Staatsanwaltschaft in Paris, die von der Behörde zu dem Thema zur Beratung herangezogen worden sei, teile diese Auffassung. Auf die Ermittlungen angesprochen, sagt Claudie Pruvost nur: „Die Angelegenheit liegt jetzt in den Händen des Staatsanwalts." Ihre Nachfolgerin als Leiterin der Wasserkommission, Regine Grandjean-Begel, bezeichnete die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft auf Nachfrage im Frühjahr noch als „komisch". Sie erkenne keinen Interessenkonflikt und sehe auch kein Problem darin, auf der unter ihrer Vorgängerin getroffenen Grundsatzentscheidung aufzubauen. Bei der jüngsten Pressekonferenz in Épinal betonen sie und ihre Stellvertreter hingegen, dass es „keine Verbindung" zur damaligen Entscheidung gebe. Die Kommission hänge außerdem nicht von einzelnen Personen ab, man solle die Situation doch bitte „entdramatisieren".
Einiges hat sich derweil schon getan. Die Politikerin Claudie Pruvost verlor nicht nur die Leitung der Wasserkommission, sie darf in Vittel überhaupt nichts mehr rund um das Thema Wasser mitentscheiden. Und der neue Vorstand der Wasserkommission kündigt an, sich demnächst mit kritischen Lokalpolitikern zu treffen und die Bürger zum Thema zu befragen, um eventuell „leichte Anpassungen" der Wasserpolitik vorzunehmen.
Angesichts der Tragweite der jüngsten Entscheidung wird das die Vitteler Bürger wohl kaum beruhigen. Der Umweltverband VNE fordert nun vom Präfekten, Nestlé die Pump-Genehmigungen zu entziehen, damit die Bevölkerung nicht eine „versteckte Privatisierung" der Wasserversorgung in Kauf nehmen müsse.
Eine deutsche Internet-Petition gegen Nestlés „Wasser-Irrsinn" in Vittel hat derweil bereits mehr als 120.000 Unterschriften eingesammelt. Es scheint, als sei das Geschäftsmodell „Ware Wasser" doch nicht so sicher wie gedacht.