Gesellschaftliche Einblicke und politische Zusammenhänge des Zeitraumes von 1896 bis 1933 gewährt ein aktueller Reprint der satirischen Wochenzeitschrift „Simplicissimus".
Drei Fragen: „Ein begehrtes publizistisches Objekt"
Herr Klimmt, Sie sind, gemeinsam mit Hans Zimmermann, Mitherausgeber des Bandes „Simplicissimus – 1896-1933", der ausgewählte Blätter der satirischen Wochenzeitschrift, vorstellt. Was war die Intention?
Der eine Grund ist, Albert Langen, der seinen Verlag vor 125 Jahren gegründet hat, zu feiern. Der zweite Grund ist, dass wir in der Phase stehen, dass hundert Jahre seit dem Ersten Weltkrieg vergangen sind. Diese Zeitschrift hat in der Vorkriegszeit, im Kaiserreich, deren Schwächen satirisch aufgespießt. Das Buch ist daher eine historische Aussage in schönen Bildern und gleichzeitig der Übergang in die Bewährungsprobe der Weimarer Republik.
Wie lassen sich die Grafiken künstlerisch einordnen?
Sie sind grandios. Wenn man an Th. Th. Heine oder Eduard Thöny denkt, das sind großartige Künstler. Auch Käthe Kollwitz oder der berühmte österreichische Zeichner Kubin haben dort veröffentlicht. Also: Allerhöchste künstlerische Qualität, die in einem geballten Maße, deshalb auch der spätere Standort München, dort zu finden war – Langen ist von Paris über Leipzig nach München gegangen, um seine Zeitschrift herauszugeben.
Wie kam die Simplicissimus-Redaktion mit der Zensur zurecht?
Es war immer ein schmaler Grat auf dem sie sich bewegt haben. Majestätsbeleidigung war beispielsweise ein zentrales Thema. Nach einer Karikatur, die sich auf eine großkotzige Reise Kaiser Wilhelms II in den Nahen Osten, wo er sich wichtiggemacht hat, bezog, wurde die Zeitschrift verboten. Sowohl Langen als auch Heine mussten sich teilweise durch Emigration der Justiz entziehen, weil sie immer hart am Wind segelten. Das machte aber auch den Reiz der Zeitschrift aus, und, das darf man nicht vergessen, es trug, unfreiwillig sicherlich, zu einer gesteigerten Auflage bei, sodass der Simplicissimus in allen Teilen der Gesellschaft ein begehrtes publizistisches Objekt wurde.
„In meinem Staate kann jeder nur nach Meiner Façon selig werden!“
Jg. 37 Nr. 7 S. 73 vom 15.5.1932, Karl Arnold: Heil Preußen!
Preußen ist Vorbild, doch nicht in allem.
„Ihre Produktionen scheinen vom Standpunkt der Sittlichkeit sehr verwerflich. Bitte wollen Sie dieselben wiederholen."
Jg. 4 Nr. 24 S. 185 vom 9.9.1899, Ferdinand von Reznicek: Die Sittlichkeitskommission
Die Wilhelminische Gesellschaft ist geprägt vom Geist äußerster Prüderie. Staatliche und kirchliche Institutionen, selbst die Frauenbewegungen wetteifern in der Gründung von Sittlichkeitskommissionen, die im Dienste einer moral correctness alles vermeintlich Unzüchtige sogleich indizieren. Zahllose Sittlichkeitsvereine gründen sich und halten Kongresse ab, bei denen es längst nicht mehr um das geht, was noch zu tolerieren ist, sondern vielmehr darum, was noch verboten werden könnte. Dass bei der sogenannten Nuditätenschnüffelei auch ein subjektiver Eifer im Spiel sein könnte, ist eine reine Unterstellung.
„Natürlich, wenn sie zahlen sollen, will’s keiner gewesen sein!"
Jg. 14 Nr. 4 S. 68 vom 26.4.1909, Wilhelm Schulz: Reichsalimente
Alle im Reichstag vertretenen Parteien werden zunehmend von Zweifeln geplagt, die geforderten Gelder für die Aufrüstung zu bewilligen. Germania hält die Wickelkinder Heer und Marine in den Armen, während die Vertreter von SPD (Ballonmütze), Agrarier (Junkermütze), Zentrumspartei (Talar) und Nationalliberalen (Zigarre) unbeteiligt tun. Reichspräsident Fürst Bülow schenkt dazu ein.
Redakteur: „Ja, wenn Sie diesen Artikel wegen Unsittlichkeit konfiszieren, dann ist ja z. B. der ganze Goethe unsittlich." – Untersuchungsrichter: „Ja, glauben Sie denn, Goethe hätte seinen Faust heute schreiben dürfen?"
Jg. 2 Nr. 11 S. 82 vom 12.6.1897, Bruno Paul: Fortschritt
Das Reichspreßgesetz von 1874 sieht die Beschlagnahme von Druckschriften und Bestrafung der Verantwortlichen bei Verstößen wegen Hochverrats, Gotteslästerung, Majestätsbeleidigung und Unzucht vor. Letztere hat man in jeglicher Form von Nacktheit zu konstatieren, und die ihr mit Eifer nachspürenden „Nuditätenschnüffler" sind ein beliebtes Thema zahlreicher Gesellschaftssatiren. Dabei weiß auch die Zensur, dass die Grenzen der gesitteten Empfindung nur unscharf gezogen sind, und evident ist, dass man mit den Klassikern seinerzeit viel zu duldsam verfuhr!
„Es müssen noch mehr Schutzleute herauf.
Die Luder sind noch nicht weich gedrückt."
Jg. 8 Nr. 43 S. 337 vom 19.1.1904, Th.Th.Heine: Durchs dunkelste Deutschland - Crimmitschau
Die Crimmitschauer Textilfabrikanten halten durch Aussperrung und Einsatz von Streikbrechern den Betrieb einigermaßen aufrecht. Der Versuch, dies durch Blockaden zu verhindern, führt zum Belagerungszustand und der Stationierung von auswärtigen Gendarmerieeinheiten. Die Behörden stehen eindeutig auf Seiten der Arbeitgeber. Als der Zuzug von Arbeitswilligen aus dem Umland immer größer wird, bricht der Arbeitskampf zusammen.
Tante Mimi zeigt sich der Familie zum ersten Male im Radlerkostüm mit Pumphosen. Der kleine Karl geht zur Mama in höchstem Staunen: „Sieh mal, die Tante hat – Beine!"
Jg. 3 Nr. 37 S. 293 vom 10.12.1898, Walter Caspari: Eine Entdeckung
Für manchen hat die Emanzipationsbewegung große Überraschungen zu bieten!
Buch-Tipp: Zeitgeschichte, die den Blick auf die Gegenwart schärft
Sicherlich haben Sie es auch bemerkt, das Jahr 2018 brachte zum Ende des Ersten Weltkriegs eine Vielzahl von Büchern oder Fernsehdokus hervor. Und die Zeit der Weimarer Republik erfährt, ausgelöst durch die Serie „Babylon Berlin", großes Interesse. Großartig ist, dass Künstler der damaligen Zeit wiederentdeckt werden. Sie geben uns nicht nur Einblick in ihre damaligen Lebensverhältnisse, sie haben auch aus heutigem Blickwinkel etwas zu sagen.
Der Prachtband, als solchen darf man ihn ohne Übertreibung bezeichnen, „Simplicissimus – 1896-1933" hebt ausgewählte grafische Blätter der satirischen Wochenzeitschrift aus dem Vergessen und damit einen Schatz. Die Opulenz lässt sich zweifelsohne davon herleiten, dass das Buch im Verlag LangenMüller erschienen ist. Albert Langen gründete den Simplicissimus, sein Verlag fusionierte später mit dem Georg Müller Verlag.
Das ungewöhnliche Geschichtsbuch ist sowohl dem, der Kenntnisse dieser Jahrzehnte besitzt, als auch dem, der sich erstmals mit dieser Epoche beschäftigen möchte, zuzueignen. Etliche Grafiken spiegeln die Eleganz der 20er-Jahre wider, das Zeitkolorit schwingt in jedem Blatt mit. Die skizzierten Typen und Charaktere zu betrachten, garantiert obendrein einen vergnüglichen Schau-Genuss. Die Grafiken erscheinen sowohl mit dem Text, der damaligen Publikation, als auch einer sachkundigen Kommentierung, den die Herausgeber Reinhard Klimmt und Hans Zimmermann beigefügt haben. Das ist nötig, denn sonst ließe sich vieles für uns heute nicht mehr dechiffrieren. Die Kapitelüberschriften, unter „Kaiserreich" finden sich beispielsweise „Militarismus", „Antisemitismus und Antisemitisches", „Pressefreiheit und Zensur", „Frauenfrage und Emanzipation", geben Orientierung.
Jedes Umblättern birgt eine Erkenntnis, lässt man sich auf dieses Buch ein. Diese Erkenntnisse sind selten schön und tun manchmal weh, aber, und das ist geradezu verblüffend, sie ermöglichen zudem den Blick auf unsere Gegenwart zu justieren.