Dr. med. vet. Christa Thöne-Reineke ist Professorin für Tierschutz, Tierverhalten und Versuchstierkunde und Tierschutzbeauftragte an der Freien Universität Berlin. Im Interview spricht sie über ihre eigenen Erfahrungen mit Tierversuchen und ihre Einstellung dazu.
Frau Thöne-Reineke, welche Tierversuche haben Sie durchgeführt?
Man hat mir angeboten, eine transgene Mauslinie phänotypisch zu charakterisieren. Ich habe mich im Rahmen meiner Doktorarbeit entschieden, diese Versuche durchzuführen. Als dann zum ersten Mal Tiere getötet werden mussten, war das gar nicht so einfach. Weil man die Tiere selbst gezüchtet und betreut hat. Die haben zwar keinen Namen, aber trotzdem hat man eine Beziehung zu den Tieren.
Wie haben Sie das erlebt?
Das war sehr belastend. Das fällt einem nicht leicht, und man muss vorher für sich klären, was man an Erkenntnissen erwartet. Man muss für jedes Tierexperiment eine Genehmigung beantragen, und es muss eine ethische Vertretbarkeitsprüfung durchgeführt werden. Es findet dann eine Abwägung statt zwischen dem erwarteten Erkenntnisgewinn im Verhältnis zu der zu erwartenden Belastung für die Tiere, die in meinem Fall gering war.
In welchem Gebiet haben Sie geforscht?
Ich habe im Bereich Herz-Kreislauf-Erkrankungen gearbeitet. Und wenn man das Herz-Kreislauf-System untersucht, braucht es einen ganzen Organismus. Das ist in einer Zellkultur in der Komplexität nicht zu simulieren. Wenn man wissen will, ob ein bestimmtes Medikament den Blutdruck senkt, dann muss man dazu einen Organismus haben, der überhaupt einen Blutdruck hat. Bei meiner Fragestellung damals ging es um Folgendes: Es war ein neues Protein entdeckt worden, das den Blutdruck steigen lässt. Die Hypothese war, wenn ich dieses Gen hochreguliere in einem Organismus, dann bekommt dieser Organismus einen hohen Blutdruck. Die Mäuse haben zusätzlich dieses Gen bekommen und sollten dadurch hohen Blutdruck bekommen. Dann wären sie ein geeignetes Modell gewesen, um Medikamente, die den Blutdruck senken, zu untersuchen.
Waren die Versuche erfolgreich?
Die erste Erkenntnis war, dass die Hypothese gar nicht gestimmt hat. Die Tiere hatten gar keinen hohen Blutdruck. Der Grund war: Wenn ich in einem Organismus an einer Stellschraube etwas verändere, dann gibt es immer gegenregulatorische Systeme.
Ich war damals erst mal enttäuscht, dass die Tiere keinen hohen Blutdruck hatten. Wir haben damals zeigen können, dass es ein gegenregulatorisches System gibt, das von Anfang an dafür sorgt, dass der Blutdruck nicht steigt. Es wurden wichtige Erkenntnisse für die Behandlung von Nierenerkrankungen, Lungenerkrankungen, die im Kontext mit Bluthochdruck stehen, gewonnen. Dadurch konnten Therapien für den Menschen abgeleitet werden.
Wie entscheidend war das für Ihre weitere Arbeit mit Tierversuchen?
Ich habe in dieser Zeit für mich erkannt, dass wir in absehbarer Zeit nicht auf Tierversuche verzichten können. Und dass es ganz wichtig ist, dass in dem Bereich Menschen tätig sind, die die richtige Ausbildung haben. Nicht alle Wissenschaftler sind Veterinärmediziner, das ist auch nicht in allen Bereichen zwingend erforderlich. Aber gerade wir Veterinärmediziner haben natürlich das Grundwissen, um uns besonders um diese Tiere zu kümmern. Deshalb bin ich Tierschutzbeauftragte geworden. Es ist auch ins Gesetz übernommen worden, dass Tierschutzbeauftragte Tierärzte sein müssen. Ich kümmere mich zum Beispiel um die sogenannten Drei R. Das erste R bedeutet Replace. Das heißt, wenn ich eine Fragestellung mit einer Alternativmethode beantworten kann, darf ich keinen Tierversuch machen, und es müssen weiterhin Anstrengungen unternommen werden, Alternativmethoden für die Forschung und Lehre zu entwickeln und zu validieren. Das zweite R heißt Reduce. Das heißt, wenn ich nicht auf den Tierversuch verzichten kann, muss ich eine gute statistische Planung machen, damit ich so wenige Tiere wie möglich einsetze, aber so viele wie nötig, um valide wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen. Das dritte R bedeutet Refine. Das heißt, ich verfeinere und verbessere die Methoden und Haltungsbedingungen, damit die Tiere so schonend und gut wie möglich gehalten werden.
Haben Sie das Gefühl, dass es den Versuchstieren gut geht?
Ich bin davon überzeugt. Wenn ich über alle Tiere schaue, zumindest im Bereich der Versuchstiere, herrschen hier die strengsten Regelungen und die beste Überwachung. Den Versuchstieren geht es viel besser, als die Gesellschaft annimmt.
Können die Tiere in den Versuchslaboren artspezifisch leben?
Ja, das wird berücksichtigt. Für den Platzbedarf gibt es klare Vorschriften, die Umwelt muss angereichert werden, die Fütterung muss sichergestellt sein, die Haltungsbedingungen sind für jede Tierart entsprechend geregelt. Wenn es versuchsbedingte Abweichungen gibt, müssen die vorher beantragt und genehmigt werden. Auf der anderen Seite kann jeder in die Zoohandlung gehen und sich jedes Tier kaufen, ohne zu wissen, was es für einen Bedarf oder Bedürfnisse hat, ohne zu wissen, wie es gefüttert werden muss. Da besteht eine riesige Diskrepanz.
Sie wollten als Tierärztin Tieren ursprünglich mal helfen. Stattdessen haben Sie Versuche an ihnen durchgeführt. Wie sehen Sie
diesen Widerspruch?
Es gibt für mich keinen echten Widerspruch. Jeder, der Tierarzt wird, muss sich vorher darüber klar sein, dass Tiere auch getötet werden müssen. Wer dazu nicht in der Lage ist, ist in diesem Studium falsch.
Mussten Sie auch mal Versuche durchführen, unter denen die Tiere gelitten haben?
Von den Versuchen, die ich selbst durchgeführt habe, waren alle nicht schwer belastend. Ich habe später Schlaganfallversuche durchgeführt. Dabei wurde ein Schlaganfall bei den Tieren operativ herbeigeführt. Das geht nicht mit Schmerzen einher, aber natürlich hatten die Tiere dadurch nachher Einschränkungen.
Wie haben Sie das emotional erlebt?
Sowohl in der Humanmedizin als auch in der Tiermedizin ist Empathie wichtig. Aber wenn man mit jedem Patienten komplett mitleidet und keine professionelle Distanz hat, dann kann man nicht die richtigen Entscheidungen treffen.
Aber ein Patient ist jemand, dem eine Krankheit zustößt. Die Versuchstiere werden krankgemacht.
Trotzdem sind sie meine Patienten. Und ich habe die Verantwortung für diese Tiere. Darüber muss man sich vorher im Klaren sein, ob man das leisten kann.
Halten Sie Versuche an Affen ethisch für gerechtfertigt?
Ohne ethische Vertretbarkeitsprüfung und Genehmigung dürfen keine Versuche durchgeführt werden. Nach dieser Prüfung ist klar, dass wir in bestimmten Bereichen nicht komplett darauf verzichten können.
Das Wohl des Menschen steht also über allem?
Wenn ich über Tierschutz spreche, dann setze ich voraus, dass wir in irgendeiner Form Tiere nutzen und die Tiere durch das Tierschutzgesetz geschützt werden. Trotzdem machen wir riesige Unterschiede. Wenn ich Ratten und Mäuse nehme, dann stellt niemand infrage, wenn diese millionenfach als Schädlinge getötet werden. Gleichzeitig gelten riesige gesetzliche Bestimmungen, wenn es um Versuchstiere geht. Das finde ich sehr gut und richtig. Wenn ich mir aber privat eine Ratte oder eine Maus als Haustier kaufe, dann kann ich das sofort tun, und kann mit dem Tier tun und lassen was ich will. Da schaut niemand hin.
Anm. d. Red:
Die hier genannte artspezifische Haltung der Versuchstiere kann leider nicht gezeigt werden, da wir trotz mehrfacher Anfragen kein Bildmaterial von den Haltungsbedingungen erhalten haben und auch kein Fotograf zugelassen wurde.