Profitstreben, Wachstum, bedingungslose Konkurrenz – in der globalisierten Welt scheint die Politik immer weniger fähig, der Wirtschaft Regeln aufzuerlegen. Der Kapitalismus lässt sich nicht bändigen, er macht weiter – bis zum bitteren Ende?
Selbst das Wort war verpönt: Wer Kapitalismus sagte, outete sich lange als antiquierter Alt-68er. Jetzt ist der Begriff zurück, Kapitalismuskritik gilt wieder als diskutabel. Gut so! Es verdankt sich der empörenden sozialen Schlagseite der einstmals scheinbar befriedeten Industriegesellschaften und der beängstigenden Zerstörung von Natur und Umwelt. Eine global entfesselte Wirtschaft hat die Warenproduktion, die Handels- und Kapitalströme, auch den Konsum enorm wachsen und die Armut im statistischen Durchschnitt sinken lassen. Allerdings verteilt der entfesselte Markt das Eigentum immer ungleicher, wenige schöpfen die Gewinne ab, allgemeiner Wohlstand ist ferner denn je. Das wäre ja kein Problem, ginge es der besitzlosen Masse einigermaßen gut. Indes erleben gerade in den Industrieländern viele Menschen sozialen Abstieg.
Zudem gefährdet das zügellose Wachstum die menschlichen Lebensgrundlagen. Dass bestimmte Rohstoffe knapp werden, ist noch das kleinste Problem. Die Erwärmung der Atmosphäre mit ihren üblen Folgen, das Massensterben von Tier- und Pflanzenarten, die Plastikwirbel in den Weltmeeren und das Mikroplastik in unserer Nahrungskette lassen sich nicht ignorieren. Dem Einhalt zu gebieten, sehen die meisten Menschen als Gebot der Vernunft. Nur hat wirtschaftliche Rationalität mit Vernunft wenig zu tun.
Man spart an einem Ende und verbraucht woanders noch mehr
Kapitalismus braucht permanentes Wachstum. Darauf schwören nicht nur verstockte Marxisten, sondern die meisten Ökonomen und Politiker aller Couleur. Wirtschaftliches Wachstum ist Hauptziel der Politik, denn Nichtwachstum (oder gar Rezession!) bedeutet soziale Verwerfungen und führt auf Dauer in die Katastrophe. Die Nebenwirkung, dass die Unternehmen dazu ständig Energie und Rohstoffe umwandeln, lässt sich durch technischen Fortschritt und gesetzliche Vorschriften nur wenig bremsen. Man spart hier Energie ein, um an anderer Stelle umso mehr zu verbrauchen. Allein die Datenzentren von Google brauchen so viel Strom wie eine 200.000-Einwohner-Stadt. Wäre das Internet ein Land, hätte es nach einer Greenpeace-Studie den sechstgrößten Stromverbrauch der Welt.
Der Wachstumszwang wird durch die Konkurrenz angetrieben. Auf Dauer ist nur erfolgreich, wer dieselbe Ware billiger oder besser zum gleichen Preis herstellen kann. Das zwingt, „bei Strafe ihres Untergangs", wie Marx sagte, die Marktteilnehmer zu Innovation und Effizienzsteigerung. Konkurrenz belebt das Geschäft und treibt die Produktivkraftentwicklung voran. Wo sie künstlich ausgeschaltet wird, tritt Stagnation und Rückschritt ein; die DDR war ein Musterbeispiel.
Die kapitalistische Konkurrenz funktioniert, weil es Gewinner gibt, die belohnt, und Verlierer, die bestraft werden. Konkurrenz bedeutet Kampf – und dann heiligt der Zweck die Mittel, dann gehen Unternehmenslenker über Leichen. Klar wusste Boeing, dass das neue Flugsteuerungssystem der 737 Max gefährlich sein kann und hat es daher der Flugaufsicht verschwiegen. Auf keinen Fall wollte man gegenüber der Airbus-Konkurrenz zurückfallen. Ergebnis: 346 Tote.
Beispiele ohne Ende zeigen, wie sich Unternehmen den steuerlichen Regeln oder Sicherheitsaspekten entziehen, wie sie illegal Abfälle beseitigen oder Kunden betrügen. Ob Autohersteller Betrugssoftware installieren, Küchengerätehersteller konstruktiv den Pürierstab nach 30 Sekunden überhitzen lassen, oder Lebensmittelhersteller ihre Kunden systematisch belügen – immer geht es darum, sich gegenüber der Konkurrenz Vorteile um jeden Preis zu verschaffen.
Auch Moral lässt sich in Profitmargen übersetzen, meint zum Beispiel Ute Frevert. Recht hat sie! Und das geschieht auch fleißig. Sich als ökologisch verantwortlich und nachhaltig darzustellen, verspricht höheren Gewinn. Ein grünes Produkt hat ein besseres Image und, da das gute Gewissen mitverkauft wird, einen höheren Preis. Unter dem Label „nachhaltig" gewinnen Unternehmen mehr Kunden und ein besseres Standing in der Öffentlichkeit.
Das funktioniert aber nur für eine verantwortungsvolle und vor allem kaufkräftige Nischenkundschaft. Massengeschäft geht anders. Das billige T-Shirt geht reißend weg und lohnt sich trotz niedriger Marge; das teure mit dem grünen Knopf, in einer sozial verantwortlichen Lieferkette entstanden, bringt höhere Rendite – in kleiner Stückzahl. Clevere Unternehmen haben beides im Sortiment. An der Fleischtheke sind die Nackenkoteletts für 2,99 Euro nah, leidende Tiere und moderne Sklavenarbeiter in den Fleischfabriken fern.
Vorteile gegenüber Konkurrenz zählen
Da ist es billig, die Verantwortung auf den Konsumenten zu schieben. Kein Konsument, kein einzelner Bürger kann das System ändern; das Unternehmen kann es auch nicht. Die einzige soziale Verantwortung von Unternehmen bestehe darin, unternehmerisch erfolgreich zu sein, postulierte einst der Ökonom Milton Friedman. Wo Moral dabei hilft, wird sie gerne genommen. Überhaupt ist Menschen, die sich dafür engagieren, die gute Absicht nicht abzusprechen. Doch nicht zufällig sind CSR-Abteilungen (Corporate Social Responsibility, Unternehmerische Gesellschaftsverantwortung; Anm. d. Red.) oft im Marketing oder in der Kommunikationsabteilung angesiedelt. „Wer Nachhaltigkeit nur nach außen großschreibt, betreibt ‚Corporate Social Irresponsibility‘", schrieb die „Welt". Der Nachhaltigkeitsbericht 2015 des VW-Konzerns, in dem Martin Winterkorn „verantwortliches Handeln" versprach, das „seit jeher Teil der Unternehmenskultur" gewesen sei, liest sich heute wie eine Parodie. Die Idee der unternehmerischen Selbstverpflichtung bleibt in der kapitalistischen Konkurrenz ein leeres Versprechen. Unternehmen können nur ausnahmsweise aus freien Stücken menschenfreundlich und ressourcenschonend arbeiten. Der Paketdienst, der heute auf die schamlose Ausbeutung abhängiger „freier Unternehmer" als Zusteller verzichtet, würde auf dem freien Markt plattgemacht. Deshalb will der Staat in diesem noch überwiegend nationalen Markt die Rahmenbedingungen ändern.
In der Enge der frühen Bundesrepublik konnte der Staat den Kapitalismus in weiten Teilen bändigen und den Unternehmen, stets gegen Protest und lautstarke Warnungen vor dem wirtschaftlichen Niedergang, soziale, wettbewerbsrechtliche und umweltschützende Regeln aufzwingen. Verantwortung des Eigentums, soziale Marktwirtschaft – diese Ideen prägen das Selbstverständnis Deutschlands noch in vielerlei Hinsicht.
Nur ist die Welt, in der das Realität war, bloße Erinnerung. In der globalisierten Gegenwart sind die Einschnitte in den Sozialstaat tief, und die Politik scheint immer weniger fähig, der Wirtschaft einschneidende Regeln aufzuerlegen. Die globale Mobilität von Material, Menschen und Informationen und eine wachsende, facettenreiche Offshore-Wirtschaft stellt die Staaten in einen ruinösen Standortwettbewerb, in dem Deregulierung und Steuerverzicht wichtige Vorteile bedeuten. Gestaltung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen? Allenfalls für noch mehr Profit!
Dieses kranke System funktioniert für die Interessen von wenigen hervorragend, für die Gesellschaft ist es desaströs. Einen moralgetriebenen Kapitalismus kann es nicht geben, wo schon Gesetze und Strafandrohungen nur begrenzt wirken. Umwälzung der Eigentumsverhältnisse wird häufig gefordert, ist aber historisch diskreditiert. Manchem scheint eine Weiterentwicklung, eine Transformation des Kapitalismus realistischer. Konzepte für neuartige Wirtschaftssysteme wie „Postwachstumsökonomie" oder „grüner Kapitalismus" laufen jedoch stets darauf hinaus, Wachstum und übersteigerten Konsum zu unterbinden. Ein Schreckgespenst für die Bürger der Industriestaaten, ohne staatlichen Zwang nicht vorstellbar und, wenn überhaupt, nur auf überstaatlicher Ebene zu realisieren. So bleibt es wohl dabei: Kapitalismus forever – bis zum womöglich bitteren Ende.